Zugänge

Arkadien ist untergegangen …

Arkadien ist untergegangen, kein Dichter besingt es mehr.

Es war das Land, in dem das Unerreichbare nah gerückt schien, leuchtend, beseligend, das Land der Liebe und der Freuden, in dem doch auch die Trauer nicht fehlte, die sanfte Trauer, Melancholie.

Spätestens im 20. Jahrhundert ist dieses Arkadien untergegangen. Es stand für ein Glück, das es einmal gegeben haben sollte, und das es nie gab.

Sein Denkmal haben Könige, Fürsten, reiche Adlige in den Gärten des Nordens vor Augen gestellt – als idealisiertes Italien, als ein Italien, das es nie gab.

Mit diesen schönen Worten hatte Zacharias-Langhans eine Rundfunksendung im RBB angekündigt zum Thema Arkadien. Ein europäischer Traum

Lassen Sie sich nicht irritieren, es ist von Arkadien die Rede, aber es geht um unser Thema: die Hirtendichtung. Es gibt eine ganze Reihe von Begriffen, die im wesentlichen nichts anderes bezeichnen. Idyllen sind zunächst einfach Hirtengedichte, desgleichen Bukolika oder Eklogen. Das Goldene Zeitalter ist die Zeit, an die sie erinnern, und Arkadien das Land, in dem sie meist angesiedelt sind. Wir werden das später noch etwas genauer kennenlernen. Heute haben wir kaum mehr eine Erinnerung daran.

Urlaub

Sucht man heute im Web nach „Idylle“, so wird man nicht eine Aufklärung über den Ursprung der Idylle in den Hirtengedichten früherer Zeiten finden, in denen eine einfache, friedliche Welt voller Müßiggang, Kunst und Liebe zur Darstellung kam. Stattdessen stößt man auf touristische Angebote „in idyllischer Landschaft“ oder „eine perfekte Idylle in der Nähe der Großstadt“. Wenn wir also auch nicht erfahren haben, was wir wollten, so haben wir doch etwas gelernt: dass nämlich in den Urlaubswünschen vieler Zeitgenossen etwas fortlebt von dem, was einst als Arkadien oder „Goldenes Zeitalter“ Dichtung und Theorie beschäftigte.

Der Urlaub, oder zumindest eine gewisse Art von Urlaub, ist in der Tat kein schlechter Einstieg in unser Thema. Wir fahren dann gern in eine schöne Landschaft mit viel Natur und hoffen dabei auf angenehmes Wetter. Das Ganze ist häufig mit einfacheren Gesellschaften und Lebensformen verbunden. Wir haben dann Zeit, dem Müßiggang, dem Kulturgenuss und anderen Genüssen nachzugehen. Denn, nicht zu vergessen, der Urlaub ist (definitionsgemäß) die Zeit, in der wir nicht arbeiten müssen. Damit haben wir schon einige, aber sicher nicht alle, wichtige Bestimmungsstücke der Hirtendichtung beisammen: liebliche Natur, beständig schönes Wetter, Müßiggang, Liebe, Kunst, einfaches Leben.

Aber denken Sie jetzt bitte nicht, weil Sie sich ganz gut mit Urlaub auskennen, wüssten Sie schon alles über Hirtendichtung und Arkadien. Und denken Sie andererseits auch nicht: Das kann ja nichts Gescheites sein, denn im wirklichen Leben müssen wir ja arbeiten und da bringt es nichts, irgendwelchen Träumen nachzuhängen. Vielleicht sind es ja gerade der Zwang zur Arbeit und andere Zwänge, die diese Träume hervorbringen. Und wie wir die Realität nicht vergessen sollten und auch nicht können, sollten wir auch unsere Träume nicht vergessen, denn sie verraten auch etwas darüber, was wir eigentlich wollen. Jahrhundertelang jedenfalls war die Hirtendichtung des Medium, in dem ein europäischer Traum von Frieden und Glück zur Sprache und zu Bewusstsein kam.

Gessner

So schrieb zum Beispiel Mitte des 18. Jahrhunderts in Zürich Salomon Gessner seine neuen Idyllen vom Verfasser des Daphnis. Es war der bis dahin größte literarische Bucherfolg in deutscher Sprache, der dann erst übertroffen wurde von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“. Im Vorwort bringt Gessner zum Ausdruck, was ihn, und wohl auch seine Leser, dabei bewegte:

Diese Idyllen sind die Früchte einiger meiner vergnügtesten Stunden; denn es ist eine der angenehmsten Verfassungen, in die uns die Einbildungs-Kraft und ein stilles Gemüth setzen können, wenn wir uns mittels derselben aus unsern Sitten weg, in ein goldnes Weltalter setzen. Alle Gemählde von stiller Ruhe und sanftem ungestöhrtem Glük, müssen Leuten von edler Denkart gefallen; um so viel mehr gefallen uns Scenen die der Dichter aus der unverdorbenen Natur herholt, weil sie oft mit unsern seligsten Stunden, die wir gelebt, Ähnlichkeit zu haben scheinen. Oft reiß ich mich aus der Stadt los, und fliehe in einsame Gegenden, dann entreißt die Schönheit der Natur mein Gemüth allem dem Ekel und Allen den wiedrigen Eindrüken, die mich aus der Stadt verfolgt haben; ganz entzükt, ganz Empfindung über ihre Schönheit, bin ich dann glüklich wie ein Hirt im goldnen Weltalter und reicher als ein König.

Die Ekloge hat ihre Scenen in eben diesen so beliebten Gegenden, sie bevölkert dieselben mit würdigen Bewohnern, und giebt uns Züge aus dem Leben glüklicher Leute, wie sie sich bey der natürlichsten Einfalt der Sitten, der Lebens-Art und ihrer Neigungen, bey allen Begegnissen, in Glük und Unglük betragen. Sie sind frey von allen den Sclavischen Verhältnissen, und von allen den Bedürfnissen, die nur die unglükliche Entfernung von der Natur nothwendig machet, sie empfangen bey unverdorbenem Herzen und Verstand ihr Glük gerade aus der Hand dieser milden Mutter, und wohnen, in Gegenden, wo sie nur wenig Hülfe fordert, um ihnen die unschuldigen Bedürfnisse und Bequemlichkeiten reichlich darzubieten. Kurz, sie schildert uns ein goldnes Weltalter, das gewiß einmal da gewesen ist …

Gegenbild

Aus dem Gesagten wird deutlich, dass die Idylle entworfen wird als ein Gegenbild zu den Widrigkeiten und Missständen einer bedrückenden Gegenwart. Es genügt nicht, nur auf die idyllischen Zustände zu blicken. Man muss diese sehen vor dem Hintergrund der jeweiligen konkreten Lebensumstände, um ihre Attraktivität und auch die in ihnen enthaltene Kritik zu verstehen. Am Ende des 18. Jahrhunderts hat Schiller diesen Perspektivwechsel in seiner berühmten Schrift „Naive und sentimentalische Dichtung“ ausgearbeitet – und in aller Schärfe deutlich gemacht. Die Antiken, und für Schiller im Zweifelsfall vielleicht immer noch Goethe, konnten noch im Einklang mit der Natur fühlen und schreiben. Für die (damaligen) Modernen ist das in der Regel nicht mehr möglich, sondern nur noch sentlimentalisch. Was heißt das? Das ist nicht ganz einfach zu erklären, aber ein Wort von Schiller verdeutlicht es sofort. Er sagt:

unser Gefühl für die Natur, also unser sentimentalisches Gefühl, gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit.

Der naive Dichter redet demnach über die Natur wie der Gesunde über die Gesundheit. Der sentimentalische redet über sie wie ein Kranker. Das gilt ganz besonders auch für die Idylle. Es sind die Leiden an der jeweiligen Gegenwart, die den Traum von Arkadien und vom Goldenen Zeitalter so attraktiv machen.

Goldenes Zeitalter

Schon Ende des 16. Jahrhunderts beschreibt Tasso in seinem Hirtenspiel „Aminta“ das goldene Zeitalter, wobei uns nicht irritieren darf, dass er alle seine Bestimmungsstücke mit einem „nicht“ einleitet. Das wird sich aus dem Fortgang des Textes erklären.

O golden-schönes Alter,

Nicht, weil von Milch die Flüsse

Da flossen und der Honig troff von Wäldern,

Ganz ohne Mühewalter

Der Acker trug Genüsse

Und giftlos strich die Schlange über Feldern;

Nicht, weil nie Wolkendräuen

Ein finstres Zelt bereitet,

Nein – ewiges Erfreuen –

Der Frühling sich in ständigem Erneuen

Lachend vor Himmelsheiterkeit gebreitet,

Auch kein fremder Besucher

Krieg oder Waren brachte an das Ufer.

Die Bestimmungsstücke der Goldenen Zeit sind teilweise die, die wir schon kennen: schönes Wetter, immer quasi Frühling also nicht zu heiß, nicht zu kalt, schöne Landschaft, Frieden. Aber es gibt auch besonderere Merkmale, so der Tierfrieden. angedeutet in der Schlange, die giftlos durch Felder streicht. Es gibt keine Feindschaft zwischen Mensch und Tier. Der Acker liefert seine Genüsse ohne Mühen. Das spielt auf die Zeit vor Pflug und Getreidebau an.

Und schließlich gibt es noch den bemerkenswerten Satz,

Auch kein fremder Besucher

Krieg oder Waren brachte an das Ufer.

Beides wird in engem Zusammenhang gesehen und vielleicht nicht ohne Zufall. Die ersten Handelskontakte waren oft nicht friedlich, wie z.B. die durch Kriegsschiffe erzwungene Öffnung Japans für den Welthandel. Wie ich hier im Hirtenmuseum (in einem Vortrag von Frau Albert) gelernt habe: hat unser Wort „Waren“ den gleichen sprachlichen Ursprung wie dar englische Wort „war“ = Krieg.

Schäferstündchen

Aber für Tasso steht ein anderer Aspekt des Goldenen Zeitalters im Vordergrund, nämlich:

Weil da noch galt: Erlaubt ist, was gefällt»

Da führten zwischen Bächen

Und Blumen hübsche Reigen

Die Amoretten ohne Feuerbrände,

Da mischten in ihr Sprechen,

Gesellig unter Zweigen,

Nymphen und Hirten Flüstern, Spiel der Hände

Und Küsse ohne Ende;

Das Mädchen nackt und bar

Barg nicht der Rosen Füllen,

Die Schleier heut verhüllen,

Noch ihrer festen Brüste Apfelpaar;

Oft auch in blanken Seen

Konnte die Liebenden man baden sehen.

Nur dein Werk war es, Ehre,

Dass Diebstahl ward, was Amors Gabe wäre.

Was suchst Du hier, auf Heiden,

Auf denen du umsonst um Herrschaft rechtest?

Am besten wärs, du brächtest

Unruhevollen Schlummer

Dem, der da viel bedeute,

Uns aber, kleine Leute,

Laß leben wie in Urzeit, frei von Kummer,

Lasst lieben uns, es lassen

Die Jahre Menschenleben bald verblassen.

Lasst lieben uns, die Sonne sinkt und hebt sich,

Uns glänzt nur kurz ihr Funkeln,

Bald hüllt uns ein die ew’ge Nacht mit Dunkeln.

Und mit diesem Lob der Liebesfreiheit wird nun auch deutlich, was es mit dem „Schäferstündchen“ auf sich hat, das für viele die einzige Erinnerung an die goldene Zeit der Hirtendichtung geblieben ist.