Klaus Prätor
Das Interesse an Gegenständen
Überlegungen zur Form elementarer Sätze im logischen Empirismus
Sätze können in verschiedener Hinsicht elementar sein, beispielsweise in ihrer logischen Zusammengesetztheit, ihrer methodischen Erlernbarkeit oder ihrem epistemologischen Status. Für den logischen Empirismus ist der Zusammenhang zwischen logisch nicht zusammengesetzten Elementarsätzen und epistemologisch fundamentalen, weil unmittelbar empirischen Protokollsätzen von besonderer Bedeutung, da seinem Selbstverständnis zufolge komplexere theoretische Sätze mit den Protokollsätzen in einem logischen Zusammenhang stehen sollen. Gemäß dieser Zielsetzung sollte man erwarten dürfen, daß Elementar- und Protokollsätze in ihrer logischen Form übereinstimmen. Demgegenüber differieren die konkreten Konzeptionen von Protokollsätzen1, zum Beispiel von Schlick, Neurath und Carnap, nicht nur untereinander, sondern auch gegenüber der in der Tradition des logischen Atomismus üblichen Form der Elementarsätze.
Bei Neurath sieht ein Protokollsatz so aus: „Ottos Protokoll um 3 Uhr 17 Minuten: (Ottos Sprechdenken war um 3 Uhr 16 Minuten: (Im Zimmer war um 3 Uhr 15 Minuten ein von Otto wahrgenommener Tisch))“2. Dabei ist die dreifache Schachtelung eine unerläßliche Bedingung für die Form des Protokollsatzes. Unentbehrlich ist ebenfalls das Auftauchen eines Personennamens und eines Wahrnehmungsterminus im Satz innerhalb der letzten Klammer. Bei Carnap können die Protokollsätze einfacher sein: „Es regnet heftig“3 „Jetzt Freude“ oder „Jetzt hier blauer Kreis“4 führt er als Beispiele an. Auch Schlicks „Konstatierungen“ lassen sich in diese Form bringen.Ein Teil der Unterschiede beruht auf keinem echten Gegensatz und kann leicht behoben werden, wenn man zwei Bedeutungen von „Protokollsatz“ unterscheidet: zum einen als Satz, der in einem Protokoll vorkommen darf, zum andern als Satz, der selbst ein Protokoll darstellt. Neurath hat ersichtlich eher die zweite, Carnap eher die erste Bedeutung im Auge. Aber auch Carnap bestreitet nicht, daß zu einem vollständigen Protokoll eindeutige Zeit- und Raumangaben sowie der Name des Protokollantenund eventuell die Wahrnehmungsart als Rahmen hinzugehören.5
Der Unterschied, der hier behandelt werden soll, besteht darin, daß in den Neurathschen und Schlickschen Sätzen kein logisches Subjekt vorkommen muß und deshalb auch zu fragen ist, ob dann das Prädikat in diesen Sätzen seinen Namen wirklich verdient. Daß die Frage der Berechtigung dieser Sätze keine bloß historische ist, läßt sich daran ersehen, daß auch im Verlauf dieses Kongresses des öfteren Zweifel an der Korrektheit dieser Art von Sätzen laut wurden. So beanstandete beispielsweise Mr. Chisholm die syntaktische Korrektheit von „here now blue“ und schlug eine Umformulierung in „here is now something which is blue“ vor. Vermutlich gilt die Kritik weniger der grammatischen Korrektheit nach dem Maßstab der natürlichen Sprache als vielmehr der Korrektheit der logischen Syntax gemäß den Regeln und Traditionen der formalen Logik. In diesem Fall ist sie Ausdruck der bereits eingangs angesprochenen grundsätzlich unerwünschten Spannung zwischen der Form von Protokoll- und Elementarsätzen. In der modernen Logik, besonders im logischen Atomismus, wird davon ausgegangen:, daß Elementarsätze Subjekt-Prädikat-Struktur besitzen, das heißt, daß in ihnen Aussagen über mindestens einen Gegenstand gemacht werden. Sie führt damit eine alte, schon bei Aristoteles aufweisbare Vorstellung von der Zweigliedrigkeit des Satzes fort. Indem sie die unterschiedliche Funktion von Eigennamen und Prädikaten präzisiert und deutlicher herausarbeitet, was gerade als ein Fortschritt der modernen Logik seit Frege gegenüber der aristotelischen gilt, radikalisiert sie diese Position sogar in gewisser Weise. Allerdings hat bereits Russell darauf hingewiesen, daß die Orientierung an der Subjekt-Prädikat-Struktur viele Philosophen irregeführt habe.
Er bezieht sich dabei zwar lediglich auf die Nichtberücksichtigung von mehrstelligen Prädikatoren, aber die folgenden Ausführungen sollen, indem sie Zweifel an der Selbstverständlichkeit der Gegenstandsunterstellung und an der Denknotwendigkeit der Subjekt-Prädikat-Struktur zu wecken versuchen, nachweisen, daß Russell mit seiner Behauptung in einem weiteren als dem ursprünglich intendierten Sinn recht behält.6
Zu diesem Zweck greife ich zurück auf frühe Äußerungen meiner Tochter, die folgenden Wortlaut haben: „Kuh muh. Schaf mäh. Schaf nicht muh.“ Störend an diesen zugleich lehrbuchhaft und hinreichend elementar klingenden Sätzen ist, daß sie üblicherweise nicht durch Elementar- sondern eher durch Allsätze wiedergegeben würden. Für den entsprechenden und gleichfalls bedenkenswerten Satz der deutschen Erwachsenensprache „Die Kuh macht muh“ gilt das gleiche. Freilich kann dieser Satz in einer entsprechenden Situation auch auf eine bestimmte Kuh bezogen sein, und grundsätzlich können auch die Kindersätze so verstanden werden. Wenn man überlegt, wie man diese interpretieren soll, tauchen Zweifel auf, ob das in der Alternative zwischen singulären und Allaussagen überhaupt möglich ist. Wie wird ein Kind, das Kühe hauptsächlich aus Bilderbüchern kennt und nur gelegentlich beim Spazierengehen auf eine Kuh trifft, diese verschiedenen „Kuherlebnisse“ zusammenfassen? Man darf sicher nicht erwarten, daß es unterscheiden kann, ob es“wieder dieselbe“ oder „diesmal eine andere“ Kuh sieht. Es wäre ebensogut vorstellbar, daß es alle Kuherlebnisse als Erscheinungen oder Bilder (falls es beides schon unterscheidet) derselben Kuh betrachtet, wie im andern Extrem daß es jedesmal eine andere Kuh zu sehen glaubt. Wäre „Kuh“ im zweiten Fall dann aber etwas anderes als „Kuherlebnis“? Kann überhaupt von“derselben“ oder „einer anderen“Kuh gesprochen werden, wenn nie zwei Kuherlebnisse als eine Kuh identifiziert werden? Aus all den Fragen ergibt sich, daß es für das Kind nicht, wie es beim Erwachsenen der Fall wäre, lediglich um Unterscheidungsschwierigkeiten im Umgang mit Kühen geht, sondern um das grundsätzliche Problem der Rede von und der Bezugnahme auf Gegenstände, deren Möglichkeit auf einer ersten Sprachstufe ersichtlich nicht einfach unterstellt werden kann, die vielmehr erst im Zusammenhang des weiteren Sprachaufbaus verfügbar wird.
Diese These wird gestützt durch Überlegungen Quines7, in denen er besonders die Stellung der Kontinuativa („Stofftermini“ wie Wasser, Sand etc.) hervorhebt, die eine ambivalente Stellung zwischen Allgemeinbegriffen und Eigennamen einnehmen. Quine macht einsichtig, daß aus der Perspektive eines Kleinkindes Eigennamen, kontinuative und individuative Terme ununterschieden bleiben Milch, Mutter und Apfel tauchen in einzelnen Vorkommnissen auf und verschwinden wieder. Entsprechend wird in gleicher Weise auf sie Bezug genommen, etwa durch „mehr Milch“, „mehr Mutter“, „mehr Apfel“ wobei auch diese Redeweise die Unterscheidungen des Kindes nicht korrekt wiedergibt, weil sie diese zu stark nach dem Muster der Kontinuativa behandelt und damit bereits einen gegenständlichen Anteil enthält. Erst später trennen sich die Gebrauchsweisen dieser Wörter und „Mutter“ wird zum Eigennamen, „Milch“ zum kontinuativen und „Apfel“ zum individuativen Term. Wenn auch Quine selbst die kontinuativen Terme als archaische Überbleibsel bezeichnet und dazu zu neigen scheint, die nichtgegenständliche Sprechweise als grundsätzlich der gegenständlichen unterlegen zu betrachten, so kann seine Problementfaltung doch zum Ausgangspunkt für eine weitergehende Infragestellung des Gegenstandsbegriffs und der Notwendigkeit der Subjekt-Prädikat-Zweiteilung des Satzes benutzt werden, die sich etwas pathetisch bestimmen ließe als die Beseitigung der Restmetaphysik in der Rede von konkreten Gegenständen. Sicher war es ein sprachphilosophisches Verdienst des hier in nominalistischer Tradition stehenden logischen Empirismus, die Unterstellung abstrakter Gegenstände problematisiert zu haben, aber dabei wurde häufig die Rede von konkreten Gegenständen in einer Weise als unproblematisch vorausgesetzt, wie sie es nach dem Gesagten nicht sein kann. Das Einholen dieser Problematik soll in zwei Schritten vor sich gehen: im ersten werden Alternativen zur üblichen Elementarsatzform aufgewiesen, im zweiten wird gezeigt, wie in eine ursprünglich gegenstandsfreie Sprache die Rede über Gegenstände eingeführt werden kann und welchen Sinn dies macht. Trotz seines konstruierenden Aufbaus ist die Argumentationsabsicht auch im zweiten Teil eine destruktive: durch das Aufzeigen des Wegs zur gegenstandsbezogenen Rede soll diese in ihrem Absolutheitsanspruch eingeschränkt werden.
Die erste Aufgabe ist nicht schwierig. Wo die Äußerung von „Mutter“, „Milch“ oder „Apfel“ feststellenden Charakter hat , nicht zum Beispiel einen Wunsch oder eine Aufforderung ausdrückt und andererseits noch keinen Gegenstandsbezug enthalten soll, wie in „Dies ist ein Apfel.“ oder „Dies ist die Mutter“ wird man sie wiedergeben können mit „Apfel da“ oder „Hier jetzt Mutter“, wobei die Zeit- und Raumindikatoren nur die Situationsabhängigkeit der Äußerung klarstellen und in der Situation selbst in einer ersten Phase nicht nötig sind. Will man auch auf diese Indikatoren verzichten und zum andern den gegenstandsassoziierenden Gebrauch des Substantivs vermeiden, so liegt im Deutschen eine Satzform wie „es regnet“, „es äpfelt“, „es muttert“ nahe, deren Subjekt nur ein grammatisches ist; im Englischen vielleicht „it’s mothering“, „it’s milking“. Das sind genau die Satzformen, die auch Schlick und Carnap zur Formulierung von Protokollsätzen verwenden. Auch die Protokollsatzdiskussion nimmt ausdrücklich Bezug auf die Situation des sprachlernenden Kindes. Sie tut dies nicht in der Absicht, eine empirisch abgesicherte Theorie der Sprachentwicklung zu geben, sondern um eine methodische Rekonstruktion eines Sprachaufbaus zu liefern. Über ein besseres Kriterium für die Korrektheit eines Sprachgebrauchs als seine methodische Rekonstruierbarkeit verfügt auch die formale Logik nicht. Unter diesem Gesichtspunkt spricht nichts gegen die Korrektheit Form der Protokollsätze. Es läßt sich eher fragen, ob die in der Logik bevorzugte Elementarsatzform sich nicht mehr der aristotelischen Tradition eines zweigliedrigen Satzmodells und der Geeignetheit dieses Modells für die Anwendung eines mathematischen Funktionsbegriffs verdankt als methodischer Rekonstruktion aus alltäglichen und wissenschaftlichen Redesituationen. Die offensichtliche Ergänzungsbedürftigkeit der gegemstandsfreien Sätze bezüglich Zeit und Ort oder, um einen Fregeschen Terminus absichtsvoll zu verfremden, ihre diesbezügliche Ungesättigheit ist in manchen Zusammenhängen von Vorteil. Sie erleichtert den Anschluß an die in den natürlichen Sprachen zentrale Tempusbildung und möglicherweise auch an den auf Zeit- und Raummessungen bezogenen wissenschaftlichen Sprachgebrauch.
Für die Rekonstruktion der Rede von Gegenständen, auf die gleichwohl nicht verzichtet werden soll, bieten sich, neben dem eigenen Vorverständnis, das heißt dem aus alltäglichen und philosophischen Kontexten erlernten Gebrauch des Gegenstandsbegriffs, zwei Ansatzpunkte: erstens die sich auf Leibniz berufende Idee von der Identität des Ununterscheidbaren, die in der einen oder anderen Modifikation die verbreitetste Grundlage philosophischer und logischer Identitäts- und Gegenstandstheorien bildet; zweitens der Rückgriff auf die natürliche Sprache, im Deutschen auf den Gebrauch des bestimmten Artikels und grammatischer Entsprechungen. Gegenstände sind dann beispielsweise der Tisch, das Frühstücksei, der Walzer, die Stadt Wien, der Frühzug, der Begriff „Gegenstand“, die Röte, insgesamt wohl einige mehr als Ockham zugelassen hätte. Unglücklicherweise konvergieren beide Ansätze weder untereinander noch mit meinem Vorverständnis. Ich wähle deshalb, ohne die anderen beiden aus den Augen zu lassen, das Prinzip der identitas indiscernibilium als Ausgangspunkt, einesteils wegen seiner philosophischen Reputation, zum andern weil es einen enger umgrenzten und deshalb hoffentlich einfacheren Gegenstandsbegriff zu liefern verspricht, der erforderlichenfalls durch Abstraktionstheorien zu erweitern wäre.
Spontan ist man der Meinung, viele Gegenstände in der üblichen Gebrauchsweise des Wortes angeben zu können, die voneinander ununterscheidbar sind. Darauf wird erwidert, daß in diesen Fällen auf den ersten Blick keine Unterschiede vorhanden sein mögen, es aber doch immer
— zumindest auf molekularer Ebene — feine Differenzen gäbe, die diese Gegenstände dann doch unterscheidbar machen. Diese Entgegnung ist deshalb nicht zufriedenstellend, weil man erwarten darf, daß die Kriterien für einen Gegenstandsbegriff in den gleichen Handlungszusammenhängen explizierbar und anwendbar sind, in denen dieser Begriff gebraucht wird. Ein alltäglicher Gegenstand sollte als solcher bestimmt werden können, ohne auf nur elektronenmikroskopisch nachweisbare Kriterien zurückgreifen zu müssen. Es ließe sich sonst nicht verstehen, wie und unter welchem Interesse sich die Rede von ihm als Gegenstand im Alltag konstituieren konnte.
Eine zweite Verteidigung des Ununterscheidbarkeitsprinzips besagt, daß zwei Gegenstände a und b sich zumindest dadurch unterscheiden, daß a von b verschieden sei und b nicht.8 Das macht nur Sinn, wenn ein von der Ununterscheidbarkeit unabhängiger Gegenstandsbegriff bereits vorliegt. Wie interessant die Diskussion dann noch ist, bleibt fraglich. Jedenfalls ist sie ohne Belang für den hier abgehandelten Zusammenhang, in dem die Ununterscheidbarkeit gerade als mögliche Bestimmungsgrundlage für Identitäts- und Gegenstandsbegriff diskutiert wird.
Dem Verteidiger des Prinzips der identitas indiscernibilium bleibt schließlich noch der Verweis auf die Unterschiedenheit zweier Gegenstände durch die verschiedene Raum-Zeit-Steile, die sie einnehmen. Dieses Argument hat Ähnlichkeit mit dem vorher genannten, ohne allerdings einen unabhängigen Gegenstandsbegriff explizit vorauszusetzen. Es liefert die einschränkende Bedingung, daß zu einem Zeitpunkt ein Gegenstand recht verstanden nicht an zwei Orten sein kann. („Falsch verstanden“ wäre es in der Aussage: Der Ärmelkanal liegt gleichzeitig vor der Küste Frankreichs und der Küste Englands) Für den interessanteren Fall, in dem Vorkommnisse zu zwei verschiedenen Zeitpunkten auf Identität überprüft werden sollen, erweist es sich als inhaltsleer. Gleichwohl ist in ihm ein richtiger Gedanke enthalten, der allerdings erst zum Tragen kommt, wenn der Ansatz am Raum-Zeit-Bezug nicht mehr als Hilfsmittel der Unterscheidung betrachtet, sondern in einem eigenständigen Ansatz verwendet wird. Ich will das an einem Gedankenexperiment verdeutlichen: Wenn man sich einen Apparat nach dem Prinzip der aus dem Fernsehen über Gebühr bekannten Lottokugelmischmaschinen vorstellt, der sich von diesen nur dadurch unterscheidet, daß die eingefüllten Kugeln keine Nummern tragen, so darf man annehmen, daß wir durch bloßen Augenschein die Kugeln nicht voneinander unterscheiden können und auch nicht in der Lage sind, den Verlauf der Kugeln in der Mischmaschine zu verfolgen, da diese ihrer Idee nach darauf angelegt ist, das zu verhindern. Gleichwohl sind wir überzeugt, daß jede Kugel, die der Maschine nach dem Mischen entnommen wird, identisch ist mit einer Kugel, die vorher in die Maschine gegeben wurde. Darin unterscheidet sich dieser Fall von dem anderen, in dem wir 49 Glas Wasser, durch Augenschein ununterscheidbar, in einem Eimer mischen und dann wieder in 49 Gläser umfüllen. Ein Glas Wasser nach dem Mischen ist, bei entsprechender Abfüllpräzision, von einem Glas vorher ebensowenig zu unterscheiden wie eine Kugel vor und nach dem Mischvorgang. Der Bezug auf Raum-Zeit-Steilen, der die ansonsten ununterscheidbaren Kugeln oder Glas Wasser zu einem Zeitpunkt unterscheidbar macht, trägt nichts aus für den Vergleich zu zwei Zeitpunkten. Der wahre Grund dafür, daß wir die Holz- oder Plastikkugeln als über den ganzen Zeitraum bestehende Gegenstände betrachten, liegt meines Erachtens darin, daß wir aufgrund unserer Kenntnis des Verhaltens solcher Kugeln unter den gegebenen Umständen überzeugt sind, daß die Kugelvorkommnisse am Anfang und am £nde durch einen kontinuierlichen raumzeitlichen Zusammenhang verbunden sind, mit anderen Worten, daß sich prinzipiell eine Geschichte von diesen Kugelvorkommnissen angeben ließe. Auch wenn wir das im angezogenen Beispiel faktisch nicht tun können, halten wir eine Unterbrechung der Kontinuität nach unserer Erfahrung für ausgeschlossen. Gegenstände sollen demnach durch Geschichten von Vorkommnissen konstituiert werden, die näher zu erläuternde Bedingungen raumzeitlicher Kontinuität erfüllen müssen.9
Über die Tatsache hinaus, daß die Ununterscheidbarkeit als Kriterium für die Identität ersichtlich nicht hinreicht, gibt es ein weiteres Argument gegen die identitas indiscernibilium und für die Idee der raumzeitlichen Kontinuität als Grundlage der Gegenstandskonstitution: die Verschiedenheit des Identischen. So unterscheiden sich die Muttervorkommnisse, die unser gedachtes Kind erlebt, sicher in vielen Punkten erheblich, in Kleidung, Frisur, Stimmung, Lautstärke etc., nicht zu reden von den Veränderungen, die das Kind bis ins hohe Alter an der eigenen Person erfahren wird. Zur Verteidigung wird
in diesem Fall angeführt, daß es nur auf gewisse relevante Ununterscheidbarkeiten oder Ähnlichkeiten ankomme.10 Aber der Gebrauch des Wortes „relevant“ ist in diesem Zusammenhang entweder verharmlosend oder unbestimmt. Die Veränderung des Menschen im Lauf eines Lebens ist in einem allgemeinen Sinn sicher relevant, ebenso wie es für das Kind nicht irrelevant ist, ob die Mutter ihm zornig oder ‚freundlich begegnet. Das Richtige an der Idee der relevanten Ähnlichkeiten tritt deutlicher her- vor, wenn Relevanz inhaltlich bestimmt wird als Relevanz hinsichtlich der Erstellung eines raumzeitlichen Zusammenhangs. Im Hinblick auf dieses Interesse können dann beispielsweise beim Menschen Kleidung, Bräunungsgrad und Müdigkeit als irrelevante, gewisse Gesichtszüge, Fingerabdrücke und Stimmfärbung als relevante Ähnlichkeiten unterschieden werden.
Besonders deutlich wird das an dem in gewisser Weise extremen Vorschlag zur Identifizierung von Gegenständen, der darin besteht, ununterscheidbare Gegenstände durch Markierung unterscheidbar zu machen.11 Man könnte diesen Vorschlag, da er prinzipiell immer durchführbar ist, auffassen als unwiderlegbares Argument für das Postulat von der Identität des Ununterscheidbaren. Genauer betrachtet stützt er das Gegenteil. Weil die Markierung die Unterscheidbarkeit erst ermöglichen soll, wir andererseits aber nicht sagen würden, daß sie den Gegenstand erst herstellt, kann das der Konstituierung als Gegenstand zugrundeliegende Interesse gerade nicht der Ununterscheidbarkeit gelten. Der Sinn der Markierung – man denke etwa an die Beringung von Zugvögeln – läßt sich aber zwanglos erklären aus dem Interesse an der Verfolgung einer Kontinuität von Vorkommnissen, denn unter diesem Interesse lassen sich auch die über die Leistung der Unterscheidung hinausgehenden Anforderungen an eine Markierung verstehen, die vor allem in einer angemessenen Dauerhaftigkeit sowohl der Markierung selbst wie der Verbindung mit dem markierten Gegenstand bestehen und in der Unveränderlichkeit der im angegebenen Sinn relevanten Merkmai der Markierung. Es ist eine „Markierung“ verschiedener Gegenstände zum Beispiel durch Farben denkbar, die sich nach unüberschaubaren Regeln so verändert, daß eine Farbe einmal diesen, einmal jenen Gegenstand „markiert“, aber gleichzeitig zu jedem Zeitpunkt die Gegenstände unterscheidbar bleiben. Sie leistet nicht das, was wir von einer Markierung erwarten, und diese Erwartung zeigt wiederum, daß nicht Ununterscheidbarkeit, sondern raumzeitliche Kontinuität das grundlegende Kriterium für die Rede von Gegenständen und von Identität darstellt.
Die bisherigen Beispiele lassen den Eindruck entstehen, Gegenstände im hier intendierten Sinn könnten nur physikalische Körper sein. Das trifft nicht zu, denn die Art der raumzeitlichen Kontinuität ist unbestimmt geblieben und nicht einfach mit der physikalischen gleichzusetzen. Physikalische Körper bilden freilich ein Musterbeispiel für Gegenstände, aber Institutionen wie beispielsweise die Stadt Wien lassen sich gleichfalls unter diesen Gegenstandsbegriff fassen. Sie werden dadurch den Körpern nicht ähnlicher gemacht. Die Rahmenbedingungen für die „Geschichtsschreibung“ sind in beiden Fällen verschieden und konstituieren dementsprechend verschiedene Arten von Gegenständen. Grundsätzlich ist der Vorschlag so gedacht.daß Geschichten und damit auch Gegenstände unterschiedlicher Art möglich sein sollen, solange bei ihnen in jeweils näher festzulegender Weise von raumzeitlicher Kontinuität gesprochen werden kann.
Der Ausdruck Geschichte betont gegenüber dem der raumzeitlichen Kontinuität einseitig die zeitliche Erstreckung. Der Raum ist dabei nur insofern betroffen als manche Gegenstände ihren Ort im Lauf der Zeit ändern.
In der Regel ist die Identifizierung eines Gegenstands zu verschiedenen Zeitpunkten auch der wichtigere Fall, dessen Betonung auch deswegen notwendig ist, weil die damit verbundenen Probleme in den logischen Identitätstheorien, vielleicht wegen der Orientierung an „zeitlosen“ mathematischen Gegenständen, nicht genügend berücksichtigt werden. Insbesondere bei ausgedehnteren Gegenständen kann aber auch die Identifizierung über die räumliche Erstreckung hinweg von Interesse sein. Das „falsche Verständnis“ des oben angeführten Ärmelkanalbeispiels ist hier einschlägig, gleichfalls die Identifizierung eines Flusses an Quelle und Mündung. Der Kontinuität versichert man sich durch „Reisen“, die bei kleineren Gegenständen mit Augen oder Fingern erfolgen können, die aber im Gegensatz zur Verfolgung einer Ortsveränderung kein dem Gegenstand Nachreisen darstellen und deshalb auch keine Geschichte nachvollziehen. Eine liberalere Fassung des Gegenstandsbegriffs könnte für gewisse Zwecke auf die Bedingung der Kontinuität der räumlichen Erstreckung verzichten und dais-art die in einigen Wissenschaften übliche Rede von verstreuten Gegenständen ermöglichen.
Gleichwohl werden der Großteil der abstrakten Gegenstände, aber auch so simple Dinge wie „das tägliche Frühstücksei“, durch den vorgeschlagenen Gegenstandsbegriff nicht abgedeckt; und es besteht bei dem hier gemachten Vorschlag auch nicht die elegante Möglichkeit, durch eine Abstraktion bezüglich Äquivalenzbeziehungen die Unterscheidungen einzuschränken und so die Rede von abstrakten Gegenständen zu erreichen und gleichzeitig deren Status von dem der konkreten Gegenstände abzugrenzen.
Zur Lösung dieses Problems, die hier nur angedeutet werden kann, muß man deutlich unterscheiden zwischen dem Objekt sprachlicher Referenz und Gegenstand in dem vorgeschlagenen Sinn, wofür ich ab jetzt zur besseren Unterscheidung auch Individuum sagen werde. Für Referenzobjekte spielt zwar nicht die Ununterscheidbarkeit, wohl aber die pragmatische Ununterschiedenheit eine zentrale Holle. Auf verschiedene Vorkommnisse kann als auf ein Referenzobjekt Bezug genommen werden, wenn unter den gegebenen Interessen zwischen ihnen nicht unterschieden werden soll und wenn der Bezug im jeweiligen Zusammenhang eindeutig ist. Referenzobjekte müssen keine Gegenstände im Sinn von Individuen sein, mit anderen Worten: Referenzobjekte müssen keine raumzeitliche Kontinuität aufweisen.
Die durch das Wort „Gegenstand“ (und leider auch durch „Objekt“) nahegelegte Gleichsetzung von Referenzobjekt und Individuum ist die Ursache sowohl für eine Tendenz zur Übervölkerung der Welt mit Individuen wie auch umgekehrt für erhebliches Mißtrauen gegen die Referenz auf „abstrakte Gegenstände“, das der Furcht entspringt, damit die Existenz obskurer Individuen zulassen zu müssen. Beides ist Produkt eines vergegenständlichenden Denkens, das davon ausgeht, daß jeder Satz auf ein Individuum referieren müsse. Insbesondere die Bedenken, die gewisse Verwendungen des bestimmten Artikels in natürlichen Sprachen hervorrufen, können entfallen, wenn man davon ausgeht, daß dieser allgemein Referenz signalisiert und nicht Bezugnahme auf ein Individuum.
„Das Nashorn ist ein Säugetier“ bezieht sich nicht auf ein absonderliches, vielmehr auf gar kein Individuum. Natürlich können Individuen Referenzobjekte sein, aber daneben gibt es andere, wie den Begriff „Gegenstand“, die keine raumzeitliche Einheit darstellen, auf die gleichwohl eindeutig referiert werden kann. Im Fall der Individuen werden bei der Referenz Vorkommnisse nicht unterschieden, soweit sie in einem entsprechenden raumzeitlichen Zusammenhang stehen, im zweiten Fall werden Wortäußerungen nicht unterschieden, soweit sie gemäß dem erlernten Gebrauch wechselseitig ersetzbar sind.
Der Unterschied zu Abstraktionstheorien besteht darin, daß diejenigen Referenzobjekte, die selbst keine Individuen sind, diesen nicht, sozusagen als Gegenstände zweiter Stufe, nachgeordnet werden, sondern semantisch gleichberechtigt neben den Individuen stehen.
- Hier wird einheitlich von Protokollsatz gesprochen, auch wenn einige Autoren andere Bezeichnungen verwenden. Bei Schlick und Juhos bezieht sich das auf die sprachliche Formulierung, da die Konstatierungen keine Sätze darstellen. ↩︎
- Otto Neurath, Protokollsätze, in: Erkenntnis 3, S.207 ↩︎
- Rudolf Carnap, über Protokollsätze, in: Erkenntnis 3, S.216f. ↩︎
- Rudolf Carnap, Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft, in: Erkenntnis 2, S. 438 ff. ↩︎
- Rudolf Carnap, Über Protokollsätze, a.a.O. S.223f. ↩︎
- Frank P. Ramsey, Universals, in: Ramsey, Foundations, London 1978, S.22 ↩︎
- Willard Van Orman Quine, Word and Object, Cambridge MIT 1960; W. V. Quine, Ontological Relativity and Other Essays, Columbia UP, 1969. ↩︎
- Dieser Einwand wird diskutiert z.B. in Max Black, The Identity of Indiscernibles, in: Mind 61 Nr. 242, 1952, S.153 ff. ↩︎
- In diese Richtung geht auch die Wittgenstein verpflichtete Kritik Friedrich Waismanns an der identitas indiscernibilium in: F.Waismann, Über den Begriff der Identität, in: Erkenntnis 6, S.56 ff. ↩︎
- So auch W. V. Quine in The Roots of Reference, LaSalle, Ill. 1974. ↩︎
- Den Hinweis verdanke ich Herrn Kuno Lorenz (Saarbrücken) ↩︎