Hirtendichtung und Realität

Frühe Hirtenkulturen

Wie wir gesehen haben, ist die Welt der Hirtendichtung weit entfernt von dem, was wir als Realität des Hirtenlebens kennen. Aber es wäre verkehrt zu sagen, beide hätten nichts miteinander zu tun. Wir müssen uns klar machen, dass unsere Kultur sehr eng mit dem Hirtenwesen verbunden ist. Und ich meine damit nicht ein Randphänomen einer ihrerseits schon verschwindenden bäuerlichen Kultur, als die wir das Hirtenwesen oft betrachten, sondern einen zentralen Bestandteil unserer abendländischen Kultur.

Vor mehr als zehntausend Jahren begannen im “fruchtbaren Halbmond” in Kleinasien Menschen Feldfrüchte anzubauen und sesshaft zu werden. Etwa zur gleichen Zeit fingen sie auch an, Tiere zu zähmen und in Herden zu halten. In unseren Breiten wurden sie von dort eingeführt, Ziegen und Schafe gab es als Wildtiere hier nicht. Dörfer bildeten sich und sehr schnell auch große und sehr große Städte – und die mächtigen Reiche des Vorderen Orients. Aber beides war nicht ohne Zusammenhang. Die frühen europäischen Kulturen in Kreta und Mykene mit ihren prächtigen Palästen beruhten wesentlich auf dem Reichtum ihrer Herden. Sie waren der Ursprung von Geld und Kapital: pecus (lat. für Vieh) wurde zu pecunia (Geld) und die Häupter der Herde (caput) zu Kapital. Die Alphabetschrift (Linear B) wurde zur Verwaltung der kretischen Schafherden entwickelt und hat uns, da die ungebrannten Tafel durch den Brand des Palastes von Knossos gebrannt wurden, Details über die dortige Weidewirtschaft überliefert.

Hirtenwesen in antiker Literatur und Mythos

Angesichts dieser Bedeutung überrascht es nicht, dass das Hirtenwesen auch in Religion, Mythos und Literatur eine große Rolle spielte. In Homers Ilias wird fast so viel über Herden wie über Kriege geschrieben. Das bedeutendste altirische Epos heißt übrigens „Der Rinderkrieg“.

Allerorten finden sich in den Schriften wirkliche und mythische Hirten. Angefangen vom babylonischen Gilgamesch, dem Hirten von Uruk, über den Hirtenknaben, der dann der biblische König David wird, bis zu Paris, der durch sein Urteil im Schönheitsstreit dreier Göttinnen den trojanischen Krieg auslöst. Und natürlich gibt es auch Hirtengötter, so den Pan Arkadiens oder den römischen Herkules. Nicht zu vergessen, dass das Christentum sich Jesus als den guten Hirten vorstellt.

Die Antike wusste auch bereits viel über die Bedürfnisse, Gefährdungen und Krankheiten der Tiere – und dieses praktische Wissen tauchte in den Werken der größten Dichter auf

Nur zwei Beispiele:

Hirte, reinige die Schafe in der ersten Dämmerung! … lass dunklen Rauch aus reinem Schwefel aufsteigen, und die Schafe sollen blöken, vom qualmenden Schwefel berührt. Verbrenne Rosmarin, eine Fackel und Kräuter aus dem Sabinerland .. (Ovid)

Auch der Krankheiten Gründe und Zeichen will ich Dich lehren.

Häßliche Räude sucht heim das Schaf, wenn eiskalter Regen

Tiefer ins Lebende dringt und starrender Winter mit grauem

Froste, oder wenn den Geschoren der Schweiß blieb haften

Unabgewaschen …

(Heilmittel:)

Oder man schmiert den geschorenen Leib mit dem bitteren Ölschaum

Und mischt Silberglätte dazu und natürlichen Schwefel,

Pech vom phrygischen Ida und fette, wächserne Salbe,

Meerzwiebeln auch, betäubende Nieswurz und schwärzliches Erdharz (Vergil)

Idyllen und Arkadien

Eben dieser Vergil war der gefeiertste Dichter Roms. Wenn einer seiner Verse vorgelesen wurde, erhoben sich die Leute im Amphitheater von ihren Sitzen, was sie sonst nur taten, wenn Kaiser Augustus es betrat.

Vergil war nicht der erste, der Hirtengedichte geschrieben hat, aber der erste, der sie so bekannt machte – und Vergil war der Erfinder Arkadiens.

Die Hirtengedichte sind noch viel älter, sind schon 300 v. Chr. von Theokrit auf Sizilien – damals war Sizilien griechisch – geschrieben worden. Er nannte sie Idyllen. Das heißt einfach Bildchen, also nicht mehr als wenn heute jemand seinen Gedichtband ‚Skizzen‘ nennt.

Vergil kannte diese Gedichte, die in Sizilien am Ätna spielten, aber er verlegte sie nach Arkadien. Er nannte seine eigenen Hirtengedichte Eklogen, was „Auswahl“ bedeutet. Arkadien ist eigentlich eine Landschaft auf der griechischen Halbinsel Peloponnes. Der griechische Historiker Polybios stammte aus Arkadien und erzählte in Rom, wie schön seine Heimat sei und wie erfahren seine Hirten im Singen. Das brachte Vergil auf die Idee, seine Hirtengedichte dort anzusiedeln. Was er dabei geschaffen hatte, war ein Fantasie- oder Traumland, in dem Mythos, Wunsch und Wirklichkeit verschwimmen. Bruno Snell nannte es „Die Entdeckung einer geistigen Landschaft: Arkadien“. Daher sagte man später in der Renaissance: diese Landschaft liegt nicht in Griechenland, sondern in der antiken Literatur.

Es gibt aber noch eine andere Brücke zum wirklichen Arkadien. Dort verehrte man den Hirtengott Pan, bocksbeinig und mit Ziegenhörnern, oft auch genannt: der große Pan. Er war unberechenbar, triebhaft, stellte immer irgendwelchen Nymphen nach und lebte zusammen mit den Hirten auch im literarischen Arkadien. Eigentlich heißt Pan, über den es vor einigen Jahren schon einen Vortrag hier im Hirtenmuseum gegeben hat, der Erschrecker und daher sprechen wir auch von Panik. Panik und panischer Schrecken kommen von diesem Pan. Noch eine eher unvermutete Brücke zur Hochkultur: Tragödie heißt im Griechischen „Bocksgesang“. Bei uns wurde Pan, der manchmal auch mit Dionysos gleichgesetzt wurde, dann zum Teufel. Aus dem Hirtengott hat das Christentum den Teufel gemacht, bocksbeinig, mit Hörnern. Das war der alte Pan.

Nach zweitausend Jahren sind uns diese Gedichte nicht mehr so leicht zugänglich. Deswegen lese ich keine Ekloge vor, sondern nur vier Zeilen:

Daphnis bin ich in den Wäldern

von hier bis zu den Gestirnen bekannt

Hüter schönen Viehs

schöner noch selbst

Darin ist auch ein Selbstbezug versteckt, denn die Dichter sahen sich gern in ihren Hirten verkörpert, und Vergil deutet hier unbescheiden seine eigene Bedeutung an. Diesen Hirten Daphnis gibt es auch schon bei Theokrit. Er entstammt wohl der sizilianischen Mythologie und von dort hat Vergil auch das Motiv des Tod des Daphnis übernommen. Damit wird deutlich, dass Arkadien sich vom Paradies in einem wesentlichen Punkt unterscheidet: es gibt dort den Tod. Der Tod Daphnis, den Vergil in seiner 5. Ekloge darstellt, wird von Menschen, Tieren und der gesamten Natur betrauert, womit wieder die Idee des Goldenen Zeitalters und des Tierfriedens aufgegriffen wird.

Goldenes Zeitalter

Deshalb wollen wir noch einen Blick darauf werfen, woher diese Idee stammt. Der Gedanke, Zeitalter an einer Abstufung von Metallen festzumachen, ist babylonischen Ursprungs, aber nicht die Art, wie dieses Goldene Zeitalter geschildert wird. Die stammt aus einem der ältesten europäischen Texte aus Hesiods „Werke und Tage“ (7./8.Jhdt v. Chr.). Hesiod spricht von einem goldenen Geschlecht im Zeitalter des Kronos. Das war ein sehr alter Gott, älter als Zeus.

Die Menschen befanden sich damals im Einklang mit der Natur, im Einklang mit den Göttern und im Einklang mit den anderen Menschen. Die Idee dieses Zeitalters des Kronos lebt in der Antike fort, allerdings auch mit gewissen Unterschieden. Empedokles, ein Philosoph auf Sizilien, bestand darauf, dass es nicht um das Zeitalter des Kronos geht, sondern um das der Aphrodite, einer Fruchtbarkeitsgöttin. Die Idee wird insbesondere von den Orphikern, einer religiösen Gruppe tradiert, und in diesem Zusammenhang auch die vom Tierfrieden, weshalb viele Orphiker Vegetarier waren. Das galt übrigens auch für Platon, der an orphisches Gedankengut anknüpfte, und für die platonische Akademie.

Hier nun das Original des Hesiodtextes (in deutscher Übersetzung versteht sich)

Golden war das Geschlecht der redenden Menschen

das erstlich die unsterblichen Götter des Himmels Bewohner erschufen

jene lebten als Kronos im Himmel herrschte als König

und sie lebten dahin wie Götter ohne Betrübnis

fern von Mühen und Leid

und ihnen nahte kein schlimmes Alter

und immer regten sie gleich die Hände und Füße

freuten sich an Gelagen

lediglich jeglichen Übels starben sie übermannt vom Schlaf und alles Gewünschte hatten sie

Frucht bescherte die nahrungsspendende Erde immer von selber unendlich und vielfach

ganz nach Gefallen schufen sie ruhig ihr Werk

und waren in Fülle gesegnet

Reich an Herden, geliebt von den seligen Göttern