Thematischer Hintergrund

Die großen philosophischen Auseinandersetzungen über die Legitimität der Unterstellung von Zweckgerichtetheit in der Natur sind Vergangenheit. Ihre Geschichte, eingebettet in einen durch Säkularisierung und Verwissenschaftlichung gekennzeichneten historischen Prozeß, ist die des Zurückdrängens eines anfangs allumfassenden Anspruchs teleologischen Denkens auf einen kleinen und nicht unbestrittenen Kernbereich menschlichen Handelns. 1 Diese Auseinandersetzungen sollen hier nicht wieder aufgegriffen werden. Wo auf sie Bezug genommen wird, haben sie die Funktion einer Hintergrundfolie, die manche Positionen und Unterscheidungen in der heutigen Diskussion um die Zweckorientierung im Bereich menschlichen Handelns deutlicher hervortreten lässt. Diese soll den Gegenstand der vorliegenden Arbeit bilden.

Teleologie und Kausalität

Einem animistischen oder theistischen Denken ist Zweckgerichtetheit in der Natur selbstverständlich, weil entweder die Natur selbst anthropomorph gedacht wird und ihre Zwecke in sich trägt oder weil sie als von einer anthropomorphen Gottheit, die in der Natur ihre Zwecke verwirklicht, gelenkt oder doch eingerichtet gilt. Derartiger Unterstellungen enthält sich eine kausalistische Denkweise, wie sie sich in der Neuzeit zumindest im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich als wissenschaftliche Haltung durchgesetzt hat. Sie ist durch die Orientierung an einer nicht schon begrifflich-logisch gewährleisteten Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge von Zuständen nur formal gekennzeichnet. Es wird an späterer Stelle zu zeigen sein, daß der Begriff der Kausalität nur dann in akzeptabler Weise inhaltlich zu bestimmen ist, wenn er an den handelnden Eingriff des Menschen in das Naturgeschehen, insbesondere das Experiment, gebunden wird. 2 Die Verlässlichkeit der Naturgesetze erweist sich, dieser Auffassung zufolge, als eine spezifische Weise der Handlungsgewissheit, als eine handelnd zu gewinnende Sicherheit. Da die hierfür erforderliche Art des Handelns dem planvollen und zweckgerichteten Tätigsein zuzurechnen ist, wird der Begriff der Kausalität damit indirekt auch an den des Zwecks zurückgebunden. Gleichwohl wird mit dem Übergang zur Kausalerklärung die Rede von Zwecken der Natur gegenstandslos oder erfüllt allenfalls eine heuristische Eunktion im Vorfeld wissenschaftlicher Erklärungen.Wenn Kausalität als ein Zusammenhang gedeutet wird, dessen Gültigkeit man sich durch Handeln und Handlungswiederholung versichert, so impliziert das als Forschungsmaxime fruchtbare Postulat, alles müsse eine Ursache haben, die These, alles sei prinzipiell durch Handeln herbeiführbar, alles sei prinzipiell machbar. Natürlich bedeutet das nicht, jeder zu erklärende Zustand sei tatsächlich durch menschliches Handeln zu bewirken, sondern lediglich, daß innerhalb kausaler Konzepte in Kategorien des manipulativ-handelnden Umgangs gedacht wird. Die Erklärung der Energieproduktion der Sonne ermöglicht nicht die Nachahmung im gleichen Maßstab, aber sie gibt doch an, wie diese grundsätzlich möglich wäre. Die Grenze des Machbaren gilt als durch die Umstände und durch das Wissen von diesen festgelegt und wird gerade nicht als prinzipielle begriffen.

Über dem dadurch markierten Traditionsbruch, der sich manifestiert in der Verabschiedung auch religiös motivierter Selbstbescheidung und im steigenden Vertrauen in menschliche Erkenntniskraft und Handlungsmacht, darf die Kontinuität nicht übersehen werden. Diese zeigt sich auf der einen Seite darin, daß das kausalistische Denken keineswegs sofort mit der religiösen Tradition in Konflikt gerät, sondern bis weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein eher als eine Stütze des christlichen Weltbilds wirkt. Gerade die neuen Einsichten in die Komplexität und Wohlgeordnetheit der entteleologisierten Natur ließen es als zwingend erscheinen, daß diese als ganze doch zweckhaft konzipiert sein müsse. Von dieser Argumentation macht der physikotheologische Gottesbeweis Gebrauch, der die für die Aufklärung charakteristische Variante des teleologischen Beweises darstellt. Dem kausalen Denken in seiner mechanistischen Ausformung präsentiert sich die Welt als, häufig als Uhrwerk apostrophierte, Maschine. Der latent vorhandene Handlungsbezug des Kausalprinzips wurde, statt in ihm die Spiegelungen der methodischen Voraussetzungen dieses Erkenntnismusters zu sehen, in metaphysischer Ergänzung als Beleg für die Notwendigkeit eines ersten und allgemeinen Verursachers genommen.

Dieser Anschluß war möglich, und darin zeigt sich die andere Seite der Kontinuität, weil die Idee der Machbarkeit der Welt, allerdings in ganz anderer Weise, in der abendländischen religiösen Tradition bereits vorbereitet war durch die Gestalt des jüdisch-christlichen Schöpfergottes, der ungleich vielen anderen Göttern nicht mehr Natur ist, sondern Natur schafft und in einer Weise gestaltet, die ihm Ähnlichkeit mit homo faber verleiht. Das wird in der Genesis deutlich, die, möglicherweise in polemischer Absicht gegen andere Religionen, schildert, wie all das geschaffen wird, was zum Beispiel in den altkanaanäischen Mythen selbst noch Gottheit war:Sonne,

Mond, Erde, Meer, Tiere. Freilich liegt in dieser Art des religiösen Denkens im Unterschied zum kausalistischen lediglich eine gedachte Vergrößerung menschlicher Handlungsfähigkeit ins Unermeßliche vor, die die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten weder erweitert noch, gänzlich anderen Bedürfnissen entstammend, diese Erweiterung anstrebt. Aber diese Tradition macht es doch erklärlich, wieso bei allen scharfen und erbitterten Gegensätzen doch religiöse und frühneuzeitliche naturwissenschaftliche Begriffs- und Modellbildung vielfältig ineinandergreifen konnten. Letzteres zeigt sich auch in der Behauptung der Aufklärung, Gott bediente sich, falls er in den Gang des Weltgeschehens eingreifen wollte, der Naturgesetze,und in der Leichtigkeit, mit der im Determinismusstreit die Kausalgesetze an die Stelle des göttlichen Plans rücken konnten. 3

Mit dem Determinismusproblem erbte das kausalistische Denken auch den monistischen Anspruch: seine konsequenten Verfechter dulden keine anderen wissenschaftlichen Erklärungsmethoden neben der eigenen. In der Tat erscheint die Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft als ein Siegeszug kausalistischen Denkens. Auch für Probleme, die ursprünglich nur teleologisch verstehbar schienen, wurden kausalistische Erklärungsmöglichkeiten erschlossen. Für die Entwicklung höherer Tierarten einschließlich des Menschen ermöglichte es die Darwinsche Evolutionstheorie, zweckmäßige Artausstattung als nicht zweckgerichtet hervorgebracht zu begreifen. Kybernetik und Systemtheorie entwickelten Kausalerklärungen für zielgerichtete Steuerungsprozesse. Vor diesem Hintergrund mögen der Widerstand gegen die Universalität kausalistischen Denkens im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften und deren Bestehen auf eigenständigen Verstehensmethoden dem überzeugten Kausalisten als Restbestände vorwissenschaftlicher Denkweisen erscheinen, über den die Geschichte hinweggehen wird. Freilich käme eben darin wieder eine teleologische Haltung zum Vorschein, wie überhaupt der Erfolg der Naturwissenschaften und die daran anknüpfenden geistigen Strömungen durch die Idee des sich vervollkommnenden Fortschritts der Erkenntnis und Aufklärung eine teleologische Geschichtsbetrachtung befördert oder in dieser Art vielleicht erst begründet haben. 4

Anthropologie und Handlungstheorie

Der Begriff der Handlung ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften zunehmend in den Brennpunkt des Interesses gerückt, besonders in Linguistik, Psychologie und Soziologie, aber auch in Philosophie und Wissenschaftstheorie. Ein Grund für diese Entwicklung mag darin bestehen, daß der Handlungsbegriff nicht sofort eine Seite in der Dichotomie von Geist und Körper, beziehungsweise von sinnhaft und kausalistisch orientierten Vorgehensweisen, von Geistes- und Naturwissenschaften signalisiert. Weil Handlungen eine äußere, beobachtbare Seite aufweisen, ruft er nicht von vornherein die Bedenken auf den Plan, die bei der Rede von Geist oder Bewusstsein wach werden. Andererseits spricht er für die Bereitschaft, im Konzept des Verhaltens Differenzierungen anzuerkennen, die menschlichen Handlungen eine Sonderstellung einräumen. Der Handlungsbegriff verkörpert somit die Hoffnung auf eine Überwindung der misslichen Alternative zwischen der Restriktion auf als unzureichend empfundene kausalistische Vorgehensweisen einerseits und der Belastung mit der Hypothek einer unkritischen Rede über Bewusstseinsvorgänge andererseits. Allerdings läßt sich nicht verkennen, daß der Handlungsbegriff diese Brückenschlagsleistung faktisch häufig einer systematischen Ambiguität in seinem Gebrauch verdankt und so die Dichotomie nicht überwindet, sondern ihr Verschwinden lediglich vortäuscht. Er birgt dann die Gegensätze, die zu überwinden er verspricht, selbst in sich, da er sich sowohl kausalistisch-reduktionistisch als auch finalistisch-intentionalistisch interpretieren läßt.

Wo in zeitgenössischen Theorien eine eindeutige Abgrenzung des Handlungsbegriffs von reduktionistischen Verhaltenskonzepten angestrebt wird, erfolgt dies meist unter expliziter oder impliziter Bezugnahme auf die Zweckgerichtetheit des Handelns. 5 Die vielen Zusammenhänge, in denen der Handlungsbegriff heute thematisiert wird, können als Belege für die Relevanz des Zweckkonzepts und der Auseinandersetzung mit diesem genommen werden, ohne daß damit dessen Bedeutsamkeit ausschließlich an die des Handlungsbegriffs gekoppelt werden soll. Umgekehrt wird die Rückbindung des Handlungsbegriffs an den Zweckbegriff hier nicht deshalb als Argument aufgegriffen, weil sie als richtig, sondern weil sie als problematisch betrachtet wird. Es gibt ja durchaus zum Nachdenken Anlass, dass der Zweckbegriff einerseits selbst einen Eckstein handlungstheoretischer Überlegungen darstellt, andererseits der Bereich menschlicher Handlung den selbstverständlichen Rahmen abgibt, innerhalb dessen nach heutigem Verständnis die Rede von Zwecken allein noch als sinnvoll gelten soll.

Mit der Entteleologisierung der Natur hat sich nämlich nicht nur unser Bild von der Natur, sondern auch vom Menschen geändert – und auch der Zweckbegriff selbst. Die Zweckgerichtetheit, die in alten Konzepten noch ein verbindendes Merkmal nicht nur von Mensch und Tier, sondern darüber hinaus von Pflanzen und unbelebter Natur darstellt, wird nun zum Anthropologicum als einem das menschliche Handeln vom tierischen Verhalten unterscheidenden Kennzeichen. Die Rede vom menschlichen Handeln stellt in diesem Zusammenhang einen Pleonasmus dar, da nicht menschliches von anderem Handeln abgegrenzt werden soll. Das Epitheton „menschlich“ unterstreicht lediglich die Unterscheidung, die mit „Handeln“ schon intendiert ist. Beide Wörter verweisen allerdings auf verschiedene Kontexte. Das eine ordnet den Zweckbegriff in den Zusammenhang einer Theorie der Handlung ein. Das andere macht darauf aufmerksam, daß ein anthropologisches Thema berührt ist, wenn durch die Setzung von Zwecken eine Sonderstellung des Menschen charakterisiert werden soll. Obwohl die vorwiegend im deutschen Sprachraum vertretene philosophische Anthropologie andere Traditionen und Orientierungen verkörpert als die aus der analytischen Philosophie hervorgegangene Handlungstheorie im Sinn einer philosophy of action, teilen beide doch eine Reihe von Gemeinsamkeiten.

Die philosophische Anthropologie wehrt sich in ihren repräsentativen Entwürfen gegen die Gleichsetzung des Menschen mit dem Tier als dem geist-losen Lebewesen. 6 Die darin zum Ausdruck kommende Furcht vor der „Rattenebenbildlichkeit“ des Menschen kann zweifellos Zeichen einer Gattungsüberheblichkeit sein, die bereits die „Abstammung vom Affen“ anstößig fand und sie entspricht den Ideologiebedürfnissen eines fleischfressenden Lebewesens. Sie ist aber auch die Furcht vor der Gleichsetzung mit den Ratten in den Laboratorien behaviouristisch gesonnener Wissenschaftler und enthält damit einen Anteil sozialer Ängste vor dem hilflosen Ausgeliefertsein an Herrschaftsverhältnisse in einer durchrationalisierten und durchtechnisierten Lebenswelt, die auch für Ratten nicht von vornherein die natürliche darstellt.

Diese Ängste beziehen sich nicht auf die abstrakte Gleichsetzung mit den Tieren, sondern auf die kognitive und praktische Gleichbehandlung. Das Interesse an philosophischer Anthropologie, soweit es von dieser Furcht bestimmt ist, ist nicht auf eine faktische Sonderstellung gegenüber den Tieren ausgerichtet, sondern darauf, daß Menschen wissenschaftlich, und auch sonst, nicht nach dem Muster behandelt werden sollen, nach dem wir tierisches Verhalten zu erklären und Tiere zu behandeln gewohnt sind. Dieses Interesse schließt nicht aus, daß diese Gewohnheiten sich auch Tieren gegenüber in Einzelfällen oder generell als ungerechtfertigt erweisen könnten. Thema der philosophischen Anthropologie sind mithin nicht nach vorgegebenen Forschungsstandards feststellbare empirische Unterschiede, sondern die Reflexion eben dieser Standards. 7

Diese Interpretation der Fragestellung der philosophischen Anthropologie unter einem methodologisch- epistemologischen Interesse entspricht ihrer konkreten historischen Problemstellung als einer Reflexionsbemühung, die durch die Ergebnisse fortgeschrittener Lebenswissenschaften, genauer: durch deren, überlieferte Selbstverständnisse in Frage stellende, Interpretation in Gang gebracht wurde. 8 Sie ermöglicht darüber hinaus die Abhebung von empirisch-fachwissenschaftlichen Anthropologien und vermeidet so die mißliche Alternative zwischen einem Konkurrieren mit empirischen Befunden der Einzelwissenschaften und einer Zuflucht zu metaphysischen, im Sinn empirisch nicht aufweisbarer, Gegenstandsunterstellungen, in die die Verkennung ihres methodologisch-epistemologischen Charakters die philosophische Anthropologie vielfach gebracht hat. Schließlich schlägt sie eine Brücke zur Handlungstheorie, die den zuletzt genannten Aspekt immer schon deutlicher berücksichtigt hat, die sich ansonsten aber gleichfalls unter diesem Interesse interpretieren läßt.

Im Hinblick auf die Aufgabe einer Reflexion wissenschaflicher Methoden hat es als ein Vorzug der Handlungstheorie zu gelten, daß sie sich in interdisziplinärem Zusammenhang konstituiert hat 9und in reflexivem Zusammenhang überdies, insofern die Standortvoreingenommenheit und Fragwürdigkeit des jeweiligen fachgebundenen Vorgehens in den Blick genommen wird. Sie bietet so gerade der Philosophie und Wissenschaftstheorie die Chance, eine dogmatische methodologische Lehrmeisterrolle abzulegen und gleichwohl in Anbetracht der gegenwärtigen Wissenschaften als ihrem Gegenstand nicht in die Gleichgültigkeit eines historischen Relativismus zu verfallen, sondern stattdessen in einen Dialog mit ihnen einzutreten .

Freilich bietet die gegenwärtig vorfindliche Handlungstheorie, wie ja auch die Anthropologie, kein so einheitliches, eindeutig festgelegtes Bild, daß sie sich problemlos unter dem angegebenen Interesse deuten ließe. Das hat zum Teil seinen Grund in der Verschiedenheit der fächerspezifischen Kontexte, zu einem anderen Teil auch in inhaltlichen oder weltanschaulichen Gegensätzen, die sich auf der Metaebene der Aufgabenbestimmung einer Handlungstheorie wiederholen und so signalisieren, daß die Kontrahenten noch nicht einmal einen gemeinsamen Boden ihrer Auseinandersetzung gefunden haben. Sich angesichts dieser Problematik von vornherein in Abgrenzung von fachwissenschaftlichen Bemühungen auf eine eigenständige philosophische Aufgabe einer Handlungstheorie zu beschränken, bliebe unbefriedigend. Dieser im verständlichen Bemühen um die Eingrenzung eines noch diffusen Handlungsbegriffs eingeschlagene Weg ließe die Möglichkeit versäumen, gerade durch eine Thematisierung dieser Überlagerungen und Verschränkungen philosophische und wissenschaftstheoretische Fragestellungen zu entwickeln.

Handlungsverstehen und Handlungswahl

Die Rede von wissenschaftstheoretischen, methodologischen oder epistemologischen Interessen der Handlungstheorie oder der Anthropologie soll nicht besagen, daß eine Gleichsetzung von Handlungstheorie und Wissenschaftstheorie oder von Anthropologie und Methodologie beabsichtigt ist. 10 Das beiderseitige Verhältnis ist eher so zu denken, daß in eine Methodologie Modelle und Voraussetzungen eingehen, die in Anthropologie und Handlungstheorie thematisiert und problematisiert werden. Beide bilden so einen Rechtfertigungsrahmen für Methodologien, der deren Angemessenheit bezüglich ihres Gegenstandsbereichs sichern soll – über die Einhaltung im engeren Sinn methodologischer Prinzipien wie Widerspruchsfreiheit und Ökonomie des Theorienaufbaus hinaus.

Als klassisches Beispiel für eine Methodologie, die sich in einen derartigen Rahmen einfügt, lässt sich der Ansatz Max Webers für eine verstehende Soziologie anführen, und selbstverständlich nimmt der Zweckbegriff auch in ihr einen zentralen Platz ein. Damit ist nach Anthropologie und Handlungstheorie die Diskussion um eine verstehende Methode in den Geistes- und Sozialwissenschaften als ein weiteres Feld benannt, für das eine Klärung des Zweckbegriffs relevant sein kann. Auch in der analytischen Philosophie nehmen die Untersuchung der Möglichkeiten intentionallstischer Verstehensweisen und die kritische Auseinandersetzung mit kausalistisch-mechanistischen Erklärungsweisen menschlichen Verhaltens breiten Raum ein. In dieser Argumentation spielt der Rückgriff auf den praktischen Syllogismus eine wichtige Rolle, da mit seiner Hilfe die Abgrenzung von kausalistischen Verstehensweisen geleistet werden soll. 11 Diese Schlussweise wird, nicht unbedingt in Übereinstimmung mit Aristoteles, in der analytischen Tradition fast durchgängig als zweckrationale interpretiert. Ihre Verwendung in diesem Zusammenhang bestätigt damit noch einmal die Schlüsselstellung des Zweckbegriffs.

Aber nicht nur in der Wissenschaft sollen Handlungen verstanden werden, auch im „alltäglichen“ Leben werden Handlungen gedeutet, werden ihnen beispielsweise Zwecke unterlegt. Die wissenschaftliche Deutungspraxis läßt sich geradezu als eine Hochstilisierung der vorwissenschaftlichen begreifen. Es ist leicht einzusehen, daß nur durch den Anschluß an vor- und außerwissenschaftliche Situationen, Bedürfnisse und Unterscheidungen eine zirkelfreie Begründung wissenschaftlicher Standards möglich wird. Aber selbstverständlich ergibt sich die Wichtigkeit des alltäglichen Handlungsverstehens nicht nur daraus. Darüber hinaus kommt der Beschäftigung mit ihm ein Eigenwert zu, da unsere Handlungsentscheidungen, aber auch unsere Emotionen und Einstellungen in ganz erheblichem Maß auf der Deutung der Handlung anderer – und auch der eigenen – aufruhen. Zu bedenken ist ferner, daß „alltäglich“ hier nur einen Gegensatz zu „wissenschaftlich“ bezeichnet, sonst aber durchaus nichtalltägliche,zum Beispiel staatspolitische,Entscheidungen einschließen kann.

Wenn nun Handlungstheorie im Rückgriff auf alltägliche Handlung und Handlungsdeutungen einen Rechtfertigungsrahmen bereitstellen soll, so ist es zwangsläufig, daß sie eine Theorie nicht nur der wissenschaftlichen, sondern auch der alltäglichen Handlungsdeutung und allgemein des alltäglichen Handelns sein muss und das entspricht auch ihrem Selbstverständnis. Damit zeigt sich eine charakteristische Eigenschaft der Begriffsbildung in den Geistes- und Sozialwissenschaften, nämlich eine gewisse Abhängigkeit und Entsprechung zwischen den Begriffen und Modellen der Theoriebildung und denen der Praxis, die ihren Untersuchungsgegenstand bildet. Es unterscheidet sich darin zum Beispiel von einem kausalistischen Modell, bei dem sich zwar auch ein alltägliches Fundament in einfachen technischen Handlungen finden läßt, aber hier macht es keinen Sinn zu sagen, wir teilten diese Praxis zumindest teilweise mit dem Untersuchungsgegenstand.

Methodologisch sind aus dieser Tatsache die unterschiedlichsten Konsequenzen gezogen worden, von der Forderung nach der völligen Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Begriffsbildung zum Beispiel im sozialwissenschaftlichen Positivismus bis zum Postulat, daß nur in den Begriffen der Kultur, der der Untersuchungsgegenstand angehört, angemessenes Verstehen möglich sei. Die letztere Position findet sich in der hermeneutischen Tradition und ist in der analytischen Philosophie sehr nachdrücklich von Winchl 12 vertreten worden. Während der erste Standpunkt mit der dargelegten Aufgabenstellung einer Handlungstheorie ersichtlich nicht verträglich ist, ergibt sich beim zweiten das Problem, wie die notwendige Distanzierung und Abhebung wissenschaftlicher Deutung von vorfindlichen alltäglichen Vollzügen geleistet werden kann. Diese Schwierigkeit, die hier nur angesprochen und an späterer Stelle ausführlich bedacht werden soll, macht immerhin soviel deutlich, daß die Bezugnahme auf das Alltagshandeln nicht dessen im üblichen Sinn empirische Untersuchung sein kann, sondern es unter der Perspektive thematisieren muß, wie es prinzipiell zu verstehen sei. Das methodologische Interesse und die Verankerung im alltäglichen Handeln müssen für eine philosophische Handlungstheorie immer gleichzeitig im Blick bleiben. Ein zweckrationaler Ansatz einer Handlungstheorie beispielsweise beinhaltet demnach nicht die empirische Behauptung, es werde stets zweckrational gehandelt, und er ist deshalb auch nicht allein unter Hinweis auf das empirische Gegenteil kritisierbar.

Der Ergänzung der wissenschaftlich-methodologischen um die alltägliche Perspektive muß eine zweite an die Seite treten. Bisher war von Handlungstheorie und Zweckbegriff lediglich unter dem Aspekt des Handlungsverstehens die Rede. Es wurde dabei die Tatsache umgangen, daß von mindestens ebenbürtiger Wichtigkeit ihre Verwendung im Kontext der Handlungsentscheidung beziehungsweise, auf der Ebene von Philosophie und Wissenschaft, im Rahmen der Ethik und anderer Theorien der Handlungswahl ist. Gerade für die analytische Handlungsphilosophie gilt, daß sie sich aus ethischen Fragestellungen entwickelt hat, indem sich die Aufmerksamkeit von der inhaltlichen Begründung von Normen verschoben hat hin zur Analyse der Konzepte und Methoden, die in solchen Begründungen verwendet werden (Metaethik). Eine sprachanalytische Behandlung moralphilosophischer Probleme kann als Kern der analytischen Handlungstheorie betrachtet werden.Die Anwendung auf den Bereich der Handlungsdeutung hat demgegenüber sogar historisch als sekundär zu gelten hat. Auch die philosophische Anthropologie wurde immer auch aus einem ethischen Interesse gespeist, da sie lange mit der Hoffnung betrieben wurde, aus der erkannten Natur des Menschen auch die für ihn richtigen Normen oder die richtige Lebensführung abzuleiten. 13 Diese Zielsetzung wurde in Frage gestellt durch die Hume’sche These, es gebe keinen Weg vom Sein zum Sollen. Gleichwohl ist nicht zu bestreiten, daß es wesentliche Beiträge zur philosophischen Anthropologie gibt, die sich eher in das Gebiet einer eudämonistischen Ethik einordnen läßt als in den angesprochenen methodologisch-wissenschaftstheoretischen Interessenzusammenhang.

Schließlich sind auch Handlungsverstehen und Handlungswahl sind miteinander verschränkt, da im Handlungsverstehen häufig die handlungsvorbereitenden Entscheidungen, zum Beispiel die Zwecke der betreffenden Handlung, nachvoll zogen werden, wie umgekehrt das Handeln selbst bereits in Vollzüge von Selbst- und Fremddeutungen eingelagert ist. freilich gibt es sowohl auf wissenschaftlicher wie auf alltäglicher Ebene auch andere Weisen, das Zustandekommen von Handlungen zu erklären, wenn etwa gesellschaftliche Zwänge oder unbewußte Triebkräfte als handlungsauslösend angenommen werden. Diese Erklärungsweisen werden aber meist nicht als Formen des Handlungsverstehens im „emphatischen Sinn“ angesehen. Handlungsverstehen nimmt demnach Bezug auf die Geltungsansprüche, in die das jeweilige Handeln eingebettet ist, ohne daß die Geltungsansprüche unbedingt thematisiert oder gar geteilt werden müßten. In praktischen, zum Beispiel moralischen oder politischen, Diskursen aber geschieht gerade dies. Wenn Handlungsverstehen als Nachvollzug dieser Vorbereitungen praktischer Entscheidungen konzipiert wird, überrascht es nicht, daß dieses Abhängigkeitsverhältnis sich auch auf der Ebene der theoretischen Begriffsbildung zeigt, dergestalt daß die zentrale Bedeutung des Zweckbegriffs für das Handlungsverstehen sich als ein Reflex seiner Schlüsselstellung im Bereich der Ethik und generell der Theorien der Handlungswahl erweist. Dieser Sachverhalt wird deutlich an den Ethiken als den Theorien praktischer Diskurse von Aristoteles über Kant und die Verantwortungsethik Webers bis hin zu zeitgenössischen Entwürfen praktischer Philosophie.

Der Zweckbegriff ist als Grundbegriff der Handlungswahl und -begründung freilich nicht ohne Alternativen. Auch Werte, Normen, Bedürfnisse etc. bilden die Grundlagen ethischer Systeme. In gewissem Umfang sind diese Begriffssysteme sicher ineinander übersetzbar, aber es wird zu prüfen sein, ob diese Übersetzungen ohne Rest möglich sind oder nicht vielmehr Eigenheiten der jeweiligen Terminologien bestehen, die sich letztlich verschiedenen, einander ausschließenden Sichtweisen verdanken, deren Vorzüge und Nachteile zu thematisieren gerade Aufgabe einer moralphilosophischen Reflexion sein müßte. 14

Die Interdependenz zwischen theoretischer und praktischer Ebene sowie zwischen Handlungsdeutung und Handlungswahl zeigt sich nicht nur auf begrifflicher Ebene. Wenn das Verstehen sich nicht auf eine kausale oder kausalähnliche, durch kontrolliert reproduzierbare Manipulation belegbare Regelmäßigkeit stützen kann, muß seine Rationalität auf andere Weise verbürgt sein. Dies ist möglich, wenn dem Handeln beziehungsweise den vorbereitenden Überlegungen und Entscheidungen selbst Rationalität zugesprochen oder wenn diese aus methodologischen Gründen unterstellt wird. Die damit angesprochene Rationalitätsproblematik ist natürlich nicht nur in methodologischer Hinsicht wichtig. Mit gutem Grund hat Habermas sie als das Grundthema der Philosophie bezeichnet, 15 geht es doch dabei um die von Philosophie und Wissenschaften faktisch ständig in Anspruch genommene Möglichkeit einer zwang- und sanktionsfreien, argumentativen Überzeugung – und um deren Grenzen. Für den Bereich der praktischen Vernunft, für die Begründung von Handlungswahlen, Normen und Institutionen bildet die Zweckrationalität einen wesentlichen Bezugspunkt. Dies ist vor allem dort der Fall, wo der Anspruch praktischer Vernunft gegen die Beschränkung auf theoretische Erkenntnis verteidigt werden soll. Ihr vergleichsweise formaler Charakter und ihr enger Zusammenhang mit technischem Wissen über Wirkungszusammenhänge scheinen sie dazu besonders geeignet zu machen.

Diese Nähe zu technischem und formalistischem Denken wird der Zweckrationalität aus verschiedenen anderen Richtungen gerade zum Vorwurf gemacht. Den einen gilt dies als eine Verkürzung der Vernunft, anderen als eine Überschätzung der Rationalität, als ein Triumph berechnenden Denkens. Insofern trägt die Kritik an der Zweckrationalität teilweise einen allgemein antirationalistischen Charakter. Im einzelnen wird die Unterbewertung sowohl unbewußter wie emotionaler, biologischer wie institutioneller Faktoren moniert. Damit wird zum einen deutlich, daß die Kritik der Zweckrationalität ein vielfältiges, durchaus nicht in sich einheitliches Feld darstellt, zum andern, daß die Erörterung von Zweckorientierung und Zweckrationalität nicht möglich ist, ohne sie im Gesamtzusammenhang der Diskussion um Bestimmung und Rolle der Rationalität im Rahmen menschlichen Selbstverständnisses zu sehen.

Der Zweckbegriff stellt mithin einen Knotenpunkt in einer Reihe miteinander vielfach verschränkter philosophischer Problemfelder dar. Dementsprechend häufig taucht er in der philosophischen und wissenschaftstheoretischen Literatur auf. Nur vergleichsweise selten werden jedoch Versuche zu seiner näheren Bestimmung gemacht, vielleicht weil diese als trivial erscheint. Mit Luhmann erscheint es mir demgegenüber zur Aufklärung der angesprochenen Zusammenhänge wichtig, zu fragen, „welchen Sinn es hat, bestimmte (aber nicht alle) Wirkungen des ursächlichen Handelns als ‚Zweck‘, dieses selbst aber als ‚Mittel‘ auszuzeichnen.“ 16

  1. Vgl.dazu als älteres Standardwerk Eisler, Der Zweck, als neuere Arbeiten zur Naturteleologie bzw. zum finalen Denken in den Naturwissenschaften z.B. Löw, Philosophie des Lebendigen; $$$?Löw/Spaemann, Die Frage Wozu?; Poser (Hg.), Formen teleologischen Denkensá und Neue Hefte für Philosophie, Heft 20: Teleologie ↩︎
  2. Vgl.Wright,Erklären und Verstehen; Gasking, Causation and Recipes; Schneider, Die Asymmetrie der Kausalrelation ↩︎
  3. Übergänge lassen sich etwa bei Spinoza, Descartes und Leibniz nachvollziehen, vgl. Poser, Die Einheit von Teleologie und Erfahrung bei Leibniz und Wolff ↩︎
  4. Vgl. Kamlah, Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie ↩︎
  5. Beispiele finden sich in dem Kapitel über die Verwendung des Zweck-Mittel-Schemas in den Einzelwissenschaften. $$$ Seitenverweis ergänzen ↩︎
  6. So Gehlen, Kamlah, Plessner, Scheler ↩︎
  7. Vgl.Prätor, Die Sonderstellung des Menschen als methodologisches Problem ↩︎
  8. Die Auffassung von der Anthropologie als Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Verfahrensweisen findet sich in dem Vorwort zur ersten Auflage von Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, wo die Anthropologie als durch die Spannungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften angeregt erscheint und im Artikel „Anthropologie“ von Habermas in der ersten Auflage von Fischers Lexikon „Philosophie“ ,wo sie als eine Antwort auf die Herausforderung der Philosophie durch die Naturwissenschaften verstanden wird. ↩︎
  9. Interessanterweise sind zwei der wenigen die Philosophie einschließenden Taschenbuchprojekte der letzten Jahre Gadamer/Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie und Lenk (Hrsg.), Handlungstheorien – interdisziplinär ↩︎
  10. Schon der Wechsel der Benennungen hatte seinen Grund darin, einerseits die Wichtigkeit der methodologischen Ebene deutlich zu machen, andererseits den Eindruck einer Auflösung oder Überführung von Handlungstheorie und Anthropologie in Methodologie und Wissenschaftstheorie zu vermeiden. ↩︎
  11. Vgl. z.B. Anscombe, Intention; Hare, Practical Inference; Wright, Erklären und Verstehen ↩︎
  12. Vgl. Winch, Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, bes. S.65ff., S.112ff. ↩︎
  13. Die Verknüpfung von anthropologischen und ethischen Feststellungen lässt sich bereits früh nachweisen. So folgerte ein toskanischer Humanist (Piero Aretino?) aus der Tatsache, dass sich der Mensch vom Tier durch die Sprache unterscheide, dass es Ziel der Bildung sein müsse, sich in der Beherrschung der Sprache unter den Menschen auszuzeichnen ↩︎
  14. Offenkundig verweisen die verschiedenen Begriffe auf die Herkunft aus unterschiedlichen Bereichen, so der Normbegriff auf die juristische, der Wertbegriff auf die ökonomische Sphäre, und unterscheiden sich deshalb auch in der Leistungsfähigkeit für bestimmte Aufgaben. So fällt die Formulierung von abgestuften Präferenzen in Wertbegrffen leicht, während sie normativ zumindest umständlich ausfällt. ↩︎
  15. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, S.15 ↩︎
  16. Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, S.23 ↩︎