Zweiter Blick

Träger: Hof und Humanisten

Ich kehre noch einmal zu Tasso Aminta und damit in die beginnende Neuzeit zurück. Dort hatte es am Ende geheißen:

Uns aber, kleine Leute,

Laß leben wie in Urzeit, frei von Kummer,

Lasst lieben uns, es lassen

Die Jahre Menschenleben bald verblassen.

Da stellt sich doch die Frage: Wie sollen wir uns das Publikum dieses Hirtenspiels vorstellen? Die Antwort ist einfach, aber etwas überraschend: Es war so etwa die vornehmste Gesellschaft Europas. Dieses Drama wurde uraufgeführt auf der Insel Belvedere bei Ferrara im Rahmen eines rauschenden Renaissancefestes. Ferrara war das Schloss der Familie d’Este, einer der reichsten und vornehmsten Familien Italiens. Erstaunlich ist es schon, dass bei Hofe, wo Ehre zu den höchsten Werten gehörte, Tasso die Ehre in langen Tiraden beschimpfte – und stürmischen Beifall bekam. Es war einer der größten Erfolge der Theatergeschichte, der zahllose Nachahmer fand. Festzuhalten ist jedenfalls, dass zu dieser Zeit ein Träger der Hirtendichtung die Fürstenhöfe waren. Die Renaissance war übrigens nicht nur eine Blütezeit der Hirtendichtung, sondern auch des Hirtenwesens. Die damals errichtete Kuppel des Domes von Florenz wurde von der Gilde der Wollproduzenten finanziert. Anders als oft gesagt entstand die Hirtendichtung nicht als nachträgliche Nostalgie.

Aber es verwundert noch etwas anderes an Tasso. Wir glauben ja bisher, wie es auch immer erzählt wird, dass in der Hirtendichtung immer alles einfach, harmonisch und friedlich zugeht, wie es Tasso auch am Beispiel der Liebesfreiheit des Goldenen Zeitalters darstellt. Wie aber sieht die reale Liebeshandlung des Stückes aus? Silvia weist alle Annäherungen von Aminta brüsk zurück, wird von einem Faun fast vergewaltigt, von Aminta gerettet, weist ihn abermals ab, er versucht sich selbst zu töten, was sie zunächst nicht beeindruckt. Mit knapper Not finden sie im fünften Akt dann doch zusammen, Also alles andere als problemlos.

Wir werden es noch an anderer Stelle sehen: Arkadien ist zwar der Ort des Friedens und der Harmonie, aber gerade in den besten Hirtendichtungen bleibt die Wirklichkeit, von der sich die Idylle abhebt, nicht ausgespart, sondern wird als Hintergrund einbezogen.

Hirtendichtungen hatte es auch im Mittelalter gegeben und die großen italienischen Dichter der Frührenaissance Dante, Petrarca, Boccaccio hatten sich mit ihr beschäftigt. Aber ihren großen Aufschwung nahm sie zu Beginn der Neuzeit zunächst mit der Arcadia des Sannazaro und dann eben mit Tassos Aminta. Ein Grund für diesen großen Erfolg der Hirtendichtung im 16. und 17. Jahrhundert, lag auch in der Entwicklung der Medien. Es war die Zeit der Verbreitung des Drucks, auch die Zeit der frühen Bibelausgaben. Es gab einen Hunger nach Texten und Bildern für die Presse. Die Hirtendichtung kam dem entgegen und wurde nach den religiösen Themen zum meistgedruckten Genre. Sie wurde auch dadurch zum Sonderfall, weil hier Meisterwerke der Malerei teilweise nach Druckvorlagen entstanden, während es normalerweise umgekehrt ist.

Pegnesischer Blumenorden

Bis jetzt scheint sich alles Arkadische in weiter Ferne abzuspielen. Das Ferrara der Renaissance ist für uns ja fast so weit entfernt wie Arkadien. In der Tat wurde das reale Italien für die Deutschen zum Sinnbild von Arkadien. Goethe wählte als Motto für seine Italienische Reise „Auch ich in Arkadien“.

Aber Arkadien ist näher als vermutet. Im 17. Jahrhundert, zur Zeit des dreißigjährigen Krieges, versammelten sich zunächst in den Pegnitzauen nahe der Hallenwiese, manchmal auch in Rockenbrunn, später im Irrhain bei Kraftshof würdige Personen der Stadt Nürnberg, die sich mit Hirtennamen anredeten. Später wurden sie Pegnitzschäfer genannt. Sie selbst nannten ihre Vereinigung, die sich mit der Pflege von Sprache und Literatur beschäftigte, den Pegnesischen Blumenorden. Seine damalige Bedeutung, und damit auch die der Hirtendichtung, wird auch dadurch deutlich, dass der Präses des Ordens beim Friedensmahl 1649 in Nürnberg, mit dem das Ende des dreißigjährigen Krieges gefeiert wurde, zwei Hirtengedichte vortrug – sozusagen als Abschluss des Dreißigjährigen Krieges.

Ein Gedicht thematisiert die kriegerische Zeit und bezieht sich dabei, auf die beiden Dichter. Der eine, Harsdörffer, stammte aus Nürnberg, der andere, Klaj,, kam gerade aus Meißen nach Nürnberg. Dieses hatte die schlimmsten Zeiten des dreißigjährigen Krieges schon hinter sich, während er in Meißen noch tobte. Diese konträren Erfahrungen thematisieren sie im Pegnesischen Schäfergedicht, sozusagen dem Gründungsdokument des Blumenordens.

Sie greifen damit aber zugleich ein altes Thema aus der ersten Ekloge von Vergil auf, wo ebenfalls ein Mensch all sein Hab und Gut, sein Landgut auch, durch den Krieg verloren hat. Es wird kontrastiert mit dem Schicksal eines anderen, der in Glück und Frieden leben kann. Diese Art, antike Vorlagen aufzunehmen und abzuwandeln, charakterisiert die humanistischen Gelehrten, wie sie im Blumenorden vertreten sind. Sie sind, neben und vor dem Hof, die wichtigsten Träger der Hirtendichtung zu dieser Zeit.

Der Nürnberger singt und dichtet

Das Sorgenbefreiyte Leben in Hürden

Ist schätzbarer als hochtrabender Pracht/

Als mühsame Zeit in höhesten Würden/

und grosses Vermögens dienstbare Wacht.

Ich lebe mit Ruh in kleebaren Auen/

Vergnüget in meinem niedrigem Stand/

Die/ welche zu Hof auf Hoffnungen bauen/

Befesten den Grund auf weichenden Sand.

Der Frieden und die Hoffnung auf Frieden sind das Thema dieser Zeit, auf dem Hintergrund des Krieges. Wie schon früher gesagt, muss die Idylle immer mit Bezug auf die jeweiligen Lebensumstände verstanden werden. Die werden hier natürlich vom Krieg dominiert, der auch in der Darstellung nicht ausgespart bleibt – und zwar in einer lautmalerischen Sprache, die ganz neu und auch sehr typisch für den Blumenorden war

Es schlürfen die Pfeiffen/ es würblen die Trumlen/

Die Reuter und Beuter zu Pferde sich tumlen/

Die Donnerkartaunen durchblitzen die Lufft/

Es schüttern die Thäler/ es splittert die Grufft

Es knirschen die Räder/ es rollen die Wägen/

Es rasselt und prasselt der eiserne Regen/

Ein jeder den Nechsten zu würgen begehrt/

so flinkert/ so blinkert das rasende Schwert.

Zumindest ehrenvoll erwähnen will ich, dass der Blumenorden sich in seiner Frühzeit gegen Adelsvorrechte einsetzte und für die Rechte der Frauen, insbesondere auch für die Gleichberechtigung der Dichterinnen.

Im 18. Jahrhundert erreichte die Hirtendichtung über die erschwinglicher werdenden Bücher dann auch das Bürgertum, bekam damit auch neue Ideen und neuen Schwung, und kam dann auch bald zu ihrem Ende. Mit dem 19. Jahrhundert verlor sie in der Literatur, ebenso wie das Hirtenwesen allgemein an Bedeutung, in der bildenden Kunst blieb sie allerdings länger noch ein beliebtes Thema. Goethes hat Arkadien in seinem Faust II noch ein spätes Denkmal gesetzt. Dort vermählen sich sozusagen stellvertretend für Deutschland und Griechenland Faust und Helena und ihr Sohn Euphorion wird in Arkadien geboren – stirbt aber bald.

Die Quelle springt, vereinigt stürzen Bäche,

Und schon sind Schluchten, Hänge, Matten grün.

Auf hundert Hügeln unterbrochner Fläche

Siehst Wollenheerden ausgebreitet ziehn.

Und mütterlich im stillen Schattenkreise

Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;

Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise,

Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm.

Hier ist das Wohlbehagen erblich,

Die Wange heitert wie der Mund,

Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich,

Sie sind zufrieden und gesund.

(an Helena:)

Zur Laube wandeln sich die Thronen,

Arkadisch frei sey unser Glück!

Ausklang der Hirtendichtung im 19. Jhdt

Was die Literatur angeht, löst sich der Begriff der Idylle, der ursprünglich ja nur so etwas wie Skizze bedeutete, von der Hirtendichtung. Es entstanden bürgerliche Idyllen, so von Voss „Luise“ und „Hermann und Dorothea“. Allerdings verlor in dieser Zeit die Idylle auch ihren weltbürgerlichen, Stände und Länder übergreifenden Charakter, wurde teils gegen den Willen ihrer Autoren, teils mit ihm unpolitisch und spießbürgerlich. In der heutigen Bedeutung des Wortes schwingt das mit, obwohl es der Hirtendichtung ursprünglich fremd war.

Jean Paul trug mit dem „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal: Eine Art Idylle“ zu der Erweiterung des Gattungsbegriffs bei. In seiner Vorschule der Ästhetik erläutert er, dass Idyllen nicht an die Hirtenthematik geknüpft sei müssten und kommt zu einer allgemeineren Bestimmung der Idylle, nämlich als die Darstellung des „Vollglücks in der Beschränkung“, womit er uns auch zum Titel des Vortrags und der Ausstellung verholfen hat.