Editionen im Zeitalter ihrer Digitalisierung – Bleibendes und Aktuelles

Klaus Prätor

Digitale Texte

Die Digitalisierung ist nicht EINE und nicht in erster Linie eine technische Neuerung. Sie beruht auf einer Vielzahl  technischer Innovationen (bei Speichern, Bildschirmen, Prozessoren und Übertragungstechniken), die aber durch eine Idee oder_EIN Konzept _ verbunden sind : die binäre Codierung (die berühmten Nullen und Einsen). Diese wurde kulturgeschichtlich vorbereitet durch die Entwicklung der Schrift, insbesondere der Alphabetschrift mit der Segmentierung der Sprache und ihrer Beschränkung auf einen definierten Vorrat diskreter Zeichen.  Die binäre Codierung radikalisiert dies durch die völlige Abstrahierung von einer grafischen Gestalt der Zeichen. Dieses Konzept erlaubt es, vielfältige technische Geräte zu verknüpfen und so ungeahnte Möglichkeiten zu realisieren. Umgekehrt wäre das Konzept ohne die modernen technischen Möglichkeiten nie so wirkungsmächtig geworden. Digitalisierung ist ja kein Vorteil an sich. Weder der antike Schreiber noch seine Leser hätten es als Fortschritt empfunden, wenn er seine Inschriften in binärer Form in Stein gehauen oder in Ton geritzt hätte.

Im Druckmedium ist das Buch zugleich Speicher-, Präsentations-  und auch Übertragungsmedium. In der digitalen Welt treten diese Funktionen auseinander. Sie sind aber weitgehend beliebig kombinierbar. Ihr  Zusammenhang ‚verflüssigt’ sich.

Die Grundformen der Bewegung in Texten haben sich garnicht so sehr verändert (Blättern, Fuß/Endnoten, Querverweise, Literaturverweise, Inhaltsverzeichnisse, Register), aber sie können im Digitalen vielfältiger und direkter realisiert werden, am spektakulärsten dort, wo Verweise in räumlich entfernte Texte führen (Hyperlinks). 

Die Variationsmöglichkeiten durch neue technische Entwicklungen, aber auch die höhere Anpassbarkeit an verschiedene Benutzergruppen ist bei digitalen Editionen zu bedenken. 

Gerade langfristig angelegte kritische und wissenschaftliche Editionen dürfen ihr Augenmerk nicht nur auf die aktuelle geplante Ausgabe richten, sondern auch auf zukünftige Editionen auf der gleichen Textgrundlage. Die Präsentationsebene der aktuellen Ausgabe ist daher zu unterscheiden von einer Aufbewahrungs- oder Archivebene, aus der auch künftige Editionen ohne weiteren editorischen Eingriff in den Text erzeugt werden können.

Die Präsentationsebene ist nicht einfach die Benutzeroberfläche. Wie Lesen und Schreiben unterscheidet sich auch die Perspektive des Benutzers auf einen digitalen Text von der des Entwicklers, dem er sich heute in der Regel in der Form einer Textauszeichnungs- oder Markupsprache wie HTML oder XML darstellt. Über die Navigation wird erst bei der Konzeption der jeweiligen Ausgabe entschieden. An­de­rer­seits ist die Na­vi­ga­tion ab­hän­gig von den Strukturen, die auf der Aufbewahrungsebene zur Verfügung ge­stellt werden. Ich unterscheide deshalb Topologie auf der Aufbewahrungsebene und Navigation auf der Repräsentationsebene. Beide verhalten sich wie Möglichkeit und Realisierung. Eine Topologie stellt potentielle Verbindungen von Dokumentknoten bereit, eine Navigation realisierte Verknüpfungen innerhalb eines digitalen Dokuments. Im Bild eines öffentlichen Verkehrssystems gesprochen entspricht die Topologie dem Schienen- oder Straßennetz, die Navigation dagegen den tatsächlich existierenden Zug- oder Busverbindungen. Bei der Erstellung einer Topologie stehen begriffliche und sachstrukturelle Erwägungen im Vordergrund. Sie beruht auf sachlicher Aus­zeichnung des Dokuments sowie auf Metainformationen.  Die Navigation hat die techni­sche Realisierung der Nutzerinteraktion und die ästhetischen Anforderungen an sie zum Gegenstand.

Zitat und Referenz in digitalen Texten 

Nicht alles wird durch Digitalisierung einfacher. Die Bezugnahme auf digitale Texte, insbesondere aber auf einzelne Textstellen in ihnen führt zu Problemen. Üblicherweise erfolgt wissenschaftliches Zitieren durch die Angabe von Seite und Zeile(n) einer Bezugnahme innerhalb des jeweiligen Werkes. In der Druckwelt macht das wegen der Seiten- und Zeilengleichheit innerhalb einer Auflage Sinn. Dies hat zu der Folgerung geführt, auch in digitalen wissenschaftlichen Texten müsse so zitiert werden.

Aber die Beibehaltung dieser Zitierweise ist den Möglichkeiten des neuen Mediums nicht angemessen. Mehr als das: sie verstößt gegen die Grundprinzipien der sachlichen Auszeichnung, die diese gerade von der grafischen Gestalt des Textes unabhängig halten wollen. Der Seiten- und Zeilenfall gehört zweifellos nicht zur sachlichen Auszeichnung. Er ist Teil der grafischen Gestalt, die sich in diesem Fall zudem nur dem drucktechnischen Zufall verdankt. Wie kann eine Alternative aussehen. Sie muss Sinn tragende Elemente benutzen wie Wörter, Sätze, Kapitel. In dieser Weise werden schon Gesetzestexte und die Bibel zitiert, und so sollten wir es künftig vielleicht auch wieder halten. 

Zitate sind ein besonders augenfälliges Beispiel von Referenz in digitalen Texten, aber sie sind nur die Spitze des Eisbergs. Gerade in der editorischen Arbeit sind Referenzen auch sonst allgegenwärtig. 

Technisch lässt sich das realisieren, indem die Referenzelemente in XML getaggt werden. Damit eröffnet sich auch die Perspektive des Standoff-Markups, also der Verlagerung von Annotationen aus dem Grundtext in separate Dateien. Statt diese inline an der entsprechenden Stelle einzufügen, wird aus der externen Datei auf die Stelle referiert. Das hilft, eine Reihe von Problemen in XML zu vermeiden. Aber das ist schon ein anderes Thema.  

standoff-markup-fuer-editionen-und-paratexte-grammatik.pages_Herunterladen

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