Im Nachgang zu dem unten erwähnten Seminar zu Landauer hatte ich Gelegenheit, ein für Landauer und Mauthner einschlägiges Buch zu rezensieren: Missratene Söhne. Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle, in dem Carolin Kosuch das Leben von Fritz Mauthner, Gustav Landauer und Erich Mühsam und insbesondere ihre Stellung zu Anarchismus und Sprachkritik porträtiert.
Carolin Kosuch, Missratene Söhne, Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle, Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Bd 23, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2015, 390 Seiten, ISBN 9783525370377, 70€
Mit Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle wendet sich Carolin Kosuch einem interessanten und wenig bearbeiteten Thema zu. Sie tut dies, wie der Haupttitel Missratene Söhne signalisiert, unter der besonderen Zielsetzung, dies auf dem Hintergrund eines für die Zeit nicht untypischen Generationskonflikts zu verstehen.
Erwachsenwerden
Sie wählt mit Fritz Mauthner, Gustav Landauer und Erich Mühsam drei Protagonisten, die für diesen Konflikt und für den Zusammenhang von Anarchismus und Sprachkritik als prototypisch gelten können, allerdings mit charakteristischen Unterschieden in Akzentsetzung und politischer Haltung. Überdies sind alle drei durch ihre Biografien miteinander verbunden.
Um die personalen und thematischen Verschränkungen zur Darstellung zu bringen, bedient sich Kosuch sozusagen einer Komposition in drei Sätzen.
Im ersten, Generationskonflikte als biografische Schlüssel zur Rebellion, wird die Entwicklung der drei Protagonisten und die Herausbildung ihrer widerständigen Haltung vor dem jeweiligen familiären Hintergrund jede für sich seriell zur Darstellung gebracht. Dies geschieht vorwiegend auf der Basis von Primärquellen: Briefen, autobiografischen Texten und Zeugnissen von Nahestehenden. Gemeinsam ist bei aller Verschiedenheit der Hintergrund eines jüdischen Familienlebens mit einem dominierenden, wirtschaftlich erfolgreichen Vater. So bildet dieser Teil auch einen Beitrag zur Geschichte der Emanzipation und Assimilation jüdischer Bürgerlichkeit.
Großstadtleben
In ähnlicher Weise kann der zweite Teil Begegnungsengramme im Mikrokosmos der Gegenkultur auch als ein Baustein zur Stadtgeschichte Berlins und der Herausbildung einer Gegenkultur betrachtet werden. Beide bilden den Hintergrund des Kennenlernens der drei Autoren und der Herausbildung ihrer geistigen und politischen Positionen. Freies Theater, alternative Zeitschriften, Künstlerkolonien, Kaffeehäuser und Bohème stehen für die Ankunft einer erhofften neuen Zeit, als deren Vorkämpfer sie sich in unterschiedlicher Akzentuierung sehen. Die Verschiedenheit der Protagonisten innerhalb der gemeinsamen Thematik wird von Kosuch mit großer Sorgfalt herausgearbeitet. Mauthner bleibt stets in erster Linie Theoretiker und Kritiker, während für Mühsam politische Praxis und bohemehafter Lebensstil zentral sind und auch sein literarisches Schaffen bestimmen. Landauer nimmt hier eine Mittelstellung ein, kann auch als Vermittler zwischen dem Sprachkritiker und dem Anarchisten gesehen werden.
Anarchismus und Utopie
Als eine Art Durchführung, um in musikalischer Metaphorik zu bleiben, entwickelt der dritte Teil Auf der Suche nach der „Neuen Welt“ den weiteren biografischen und thematischen Zusammenhang der drei Autoren und auch den der zwei großen Themen Sprachkritik und Anarchismus. Als eine Gemeinsamkeit bleibt zunächst das Abrücken von der Großstadtkultur, auf die die drei in einer früheren Phase so große Hoffnungen gesetzt hatten. Ihre Utopien übernehmen damit auch einen gewissen Anteil an Kritik der Moderne und damit an der Welt, die ihre Väter mit aufgebaut haben. Der theoretische Dialog findet nach Kosuch einen Kristallisationspunkt in den Schriften, die die beiden in der von Martin Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft veröffentlichten: Die Sprache von Mauthner, und Die Revolution, sowie vorher schon Sprache und Mystik, von Landauer.
Die Arbeit betont, dass unter dem Sammelbegriff des Anarchismus sehr unterschiedliche Positionen zusammengefasst werden. Die theoretische Auseinandersetzung mit ihm ist bei Landauer am ausgeprägtesten, der sich einem sozialen Anarchismus zuordnet, wie er etwa von Kropotkin vertreten wurde. Gewaltakte sind für ihn mit anarchistischem Geist unvereinbar. Für Mühsam besteht Anarchismus in politischer Praxis und persönlicher Lebensführung, für Mauthner bedeutet er theoretische Infragestellung von unkrtischem Glauben und ungerechtfertigter Herrschaft im Kontext von Metaphysik- und Sprachkritik,. Auch Landauer zieht sich zeitweise von der praktischen anarchistischen Politik zurück und sieht seine Aufgabe im Entwurf von Utopien. Für das utopische Denken liefert er auch wichtige theoretische Anstöße.
Die Entwicklung der Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen Mauthner und Landauer ist für Kosuch ein wichtiges Thema. In der politischen Praxis entzweite sie der erste Weltkrieg. Landauer und Mühsam waren überzeugte Pazifisten, Mauthner nahm aufgrund früher kultureller Prägung in Prag eine deutschnationale Position ein, was inbesondere zwischen Landauer und Mühsam zum Streit führte.Trotzdem kamen Freundschaft und Gespräch zwischen den beiden nicht ganz zum Erliegen. Nach Landauers Ermordung im Zusammenhang seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik trug Mauthner sich mit dem unrealisierten Plan, ein Buch über den Freund zu verfassen.
Sprachkritik
Allein aus einer biografischen Betrachtung lässt sich kein Urteil über Bedeutung und Wirksamkeit einer Person oder Position fällen. Sachliche Bedeutsamkeit, die sich in der Wirkungsmächtigkeit zeigen kann, spielen hier die wesentliche Rolle. Dementsprechend hält sich Kosuch mit solchen Bewertungen zurück. Es scheint aber doch verschiedentlich eine gewisse Skepsis durch. Das kontrastiert angenehm mit dem häufigen Fall, dass Biografen zu Parteigängern ihrer Protagonisten werden.
In der Einführung, die Quellenlage und Forschungsstand referiert, wird ein bewertender Überblick über die überschaubare Forschungsliteratur zu Mauthners Sprachkritik, wie auch zu den anderen Autoren gegeben. Carolin Kosuch hat sich auf keine umfassende Auseinandersetzung mit der Sprachphilosophie Mauthners und ihre philosophiegeschichtliche Bedeutung eingelassen. Sie betont auch, dass es ihr vor allem um den Zusammenhang von Sprachkritik und Anarchismus zu tun ist. Vermutlich war es eine glückliche Entscheidung, die durch die biografische Intention auch vollauf gerechtfertigt ist. Trotzdem sei darauf hingewiesen, dass hier nach wie vor ein wichtiges Forschungsdesiderat besteht. Trotz gewisser Eigenheiten der Mauthnerschen Sprachkritik muss sie meines Erachtens als wichtiger Schritt hin zum linguistic turn der Philosophie im 20. Jahrhundert betrachtet werden. Es gibt (mindestens) drei gemeinsame bestimmende Merkmale: die Metaphysikkritik, die Unhintergehbarkeit der Sprache für die Erkenntnis und der Übergang von einer mentalistischen zu einer logisch-sprachlichen Grundbegrifflichkeit der Philosophie. Dass dies bis heute kaum gesehen wird, liegt zum einen daran, dass dieser linguistic turn sich in der deutschen Philosophie nicht durchsetzen konnte, sondern nur über die angelsächsische analytische Philosophie wirksam wurde, zum anderen aber daran, dass diese analytische Philosophie wenig Interesse an Geschichte einschließlich ihrer eigenen Vorgeschichte hat. Mauthner hat im Gegensatz dazu, seine eigenen wenig bekannten Vorläufer im 19. Jahrhundert behandelt und sogar herausgegeben (Otto Friedrich Gruppe).
Das für die analytische Philosophie Gesagte gilt in besonderer Weise für Ludwig Wittgenstein, der Mauthners ersten Band der Beiträge zur Sprachkritik gelesen hatte, nicht nur in den genannten Hauptkriterien an ihn anschließt, sondern auch an sehr Mauthner-spezifische Gedanken, zum Beispiel zu Sprache und Mystik.
Gleichwohl sagt er: „Alle Philosophie ist Sprachkritik – aber nicht im Sinne Mauthners“. Er will sich damit vermutlich von Mauthners Nietzscheanischem Gestus der Verzweiflung über die Unmöglichkeit von Erkenntnis distanzieren. Ironischerweise ist das wahrscheinlich der Satz, der Mauthner überhaupt noch im Gedächtnis der Philosophen erhalten hat.
Möglicherweise wurde mit den letzten Sätzen die Aufgabe einer Rezension leicht überschritten. Sie sind aber dadurch gerechtfertigt, dass die beanspruchte Bedeutung Mauthners mittelbar auch das Interesse an der rezensierten Arbeit erhöhen sollte. Wittgenstein ließe sich auch gut als weiteres Beispiel in die biografische Generationenkonfliktthematik einfügen. Auch er stammte aus einer emanzipierten und assimilierten jüdischen Familie mit einem wirtschaftlich äußerst erfolgreichen Vater. Demgegenüber war sein Leben, wie auch das seiner Brüder, von krisenhaften Entwicklungen geprägt. Eine Gegenüberstellung wäre sicherlich interessant.
Kosuch untersucht aus individualbiografischer Perspektive einen wichtigen Knotenpunkt der Widerständigkeit und Utopie zu Beginn des letzten Jahrhunderts, angeknüpft an Anarchismus und Sprachkritik. Sie liefert zugleich einen interessanten Beitrag zur Geschichte jüdischer Bürgerlichkeit und zur Entwicklung und Kritik großstädtischer Moderne.